piwik no script img

Verbrechen und Lügen

Ein Taschendieb wird am Zoo von der Polizei gestellt und stirbt an einem Herzinfarkt: „Jetzt haben Sie wieder eine Gelegenheit für eine Knüllerstory“, sagt der Einsatzleiter zur Journalistin, die Zeugin war

von LILLI BRAND

Mittwoch um 15.30 Uhr am Bahnhof Zoo vor der Reisebank: Ein etwa fünfunddreißigjähriger, schlecht gekleideter Mann rempelt einen älteren Herrn an. Er entschuldigt sich und fischt ihm dabei gleichzeitig ein Portemonnaie aus der Jackentasche. Der Bestohlene bemerkt es jedoch und hält mit gekonntem Griff den Arm des Diebes fest. Er ruft sofort laut nach der Polizei, die auch sofort kommt.

Gegenüber der Reisebank befindet sich das Presse-Café, und dort sitzen nicht nur Rauschgiftfahnder in Zivil, die die Szene beobachten, sondern oft und gerne auch taz-Mitarbeiter, die wiederum die Polizisten bei der Arbeit beobachten. In diesem Fall war die Reporterin jedoch noch auf dem Weg zu ihrem Beobachtungsposten, so dass sie das „Verbrechen“ an der Reisebank aus nächster Nähe mitbekam.

Es ging noch weiter. Die zwei Polizisten stellten den Taschendieb erst einmal mit erhobenen Händen an die Wand und durchsuchten ihn. Dem Bestohlenen gaben sie stolz die Brieftasche zurück. Da fasste der Dieb sich plötzlich an die Brust und röchelte „Mein Herz, mein Herz, bitte, ich brauche einen Arzt!“ Die Polizisten blieben gelassen: „Das sagen sie alle, Hände nach oben!“ Der Dieb wiederholte seine Bitte mit ersterbender Stimme, aber die Polizisten reagierten nicht. Plötzlich sackte er in sich zusammen und fiel auf die Erde. Die Polizisten bemühten sich um ihn, konnten jedoch nur noch seinen Tod feststellen und wurden abwechselnd blass und rot. „Gott sei mir gnädig“, stammelte einer.

Die taz-Reporterin vor Ort ging auf ihn zu und sagte „Warum haben Sie ihm denn die ärztliche Hilfe verweigert?“ Der Polizist antwortete: „Wir haben nicht geglaubt, dass es so ernst war.“ Dann kam auch schon der Krankenwagen. Der Unfallarzt stellte noch einmal den Tod des Diebes fest. Einer der Sanitäter ließ sich derweil von der Reporterin interviewen. „Der Mann starb an einem Herzinfarkt, jede Hilfe kam zu spät“, meinte er. Der unglückliche Dieb wurde abtransportiert, dafür erschien der Einsatzleiter am Tatort. Nach einer kurzen Beratung erklärte er seinen Leuten den Tathergang: Der Dieb sank zu Boden, ohne nach ärztlicher Hilfe gerufen zu haben!

Die Reporterin sagte ihm daraufhin, sie sei Zeugin gewesen und habe alles mitbekommen. Der Einsatzleiter nahm sie beiseite und rastete aus: „Ihr verdammten Presseschnüffler, immer wenn man euch nicht braucht, seid ihr da, aber wenn die Polizei mal einen guten Einsatz leistet, dann wird nie darüber berichtet. Die Zeitungen wollen uns immer nur zu Sündenböcken machen, um uns in ein schlechtes Licht zu rücken. Jetzt haben Sie wieder eine fantastische Gelegenheit für eine Knüllerstory.“ Die Reporterin antwortete: „Ich bin keine Zauberin und kann mich nicht in Luft auflösen – ich war nun mal da.“ Der Polizist entschuldigte sich wenig später für seinen kurzen pressfeindlichen Ausbruch und bot der Reporterin stattdessen eine kooperative Partnerschaft an: „Ich kann Sie nicht daran hindern, zu schreiben, was Sie wollen, aber es ist nun mal so, dass wir den Dieb gefasst haben, leider konnten wir das Unglück nicht verhindern, weil niemand darauf vorbereitet war. Und solche Leute erfinden gerne irgendwelche Ausreden, nur um schnell wieder freizukommen.“

Die Reaktion der Passanten war durchmischt: Die einen sagten „Der Dieb hat es verdient – einer weniger!“ Andere meinten jedoch: „Gefängnis ist zwar für solche Leute gut – aber doch nicht die Todesstrafe!“ Einige bewarfen in ihrem Zorn sogar die Polizisten mit leeren Bierdosen und schimpften sie „Mörder!“ Außerdem meinten sie, dass der Dieb ein armer Obdachloser gewesen sei und sicher aus blanker Not gehandelt habe, das müsse man auch mal bedenken – immer mehr Menschen würden heutzutage zu solchen Verzweiflungstaten getrieben. Hinzu käme hier noch, dass die „Zoo-Polizisten“ in der letzten Zeit immer brutaler geworden wären und dass es deswegen „kein Wunder“ sei.

Als die taz-Reporterin wieder nach drüben ins Presse-Café kam, wo ihr Kollege weiter die Rauschgiftzivis beobachtet hatte, erfuhr sie von diesem, dass die Verbrecher tatsächlich gerne und oft irgendwelche schlimmen Krankheiten vortäuschen. So habe man ihn selbst z. B. einmal am Ku’damm verhaftet und in die Gothaer Straße gebracht, wo er 20 Stunden in einer Gemeinschaftszelle hocken musste. Verzweifelt sann er nach einem Ausweg und fand schließlich in seiner Jacke ein altes zerknülltes Rezept. Er klingelte nach dem Schließer und bat diesen mit leiser Stimme: „Bitte, könnten Sie dieses Rezept für mich einlösen, ich habe starke Herzschmerzen und brauche dringend eine Arznei.“ Der Schließer eilte aufgeregt davon. Zehn Minuten später stand der taz-Kollege schon vor dem Haftrichter, der ihn auch sofort in die Freiheit entließ.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen