Machtvakuum mit Vampiren drin

■ Psychotisch, tragisch, irr: Per Olov Enquists Roman Der Besuch des Leibarztes

Nach Kapitän Nemos Bibliothek wollte er keinen Roman mehr schreiben. Glücklicherweise überlegte er es sich noch einmal anders. Als Der Besuch des Leibarztes 1999 in Schweden erschien, überschlugen sich sowohl Presse als auch Leserschaft. Per Olov Enquist zählt seit vielen Jahrzehnten zu den absolut herausragenden schwedischen Autoren, wovon man sich dank der gewohnt makellosen Übersetzung von Wolfgang Butt auch hierzulande abermals überzeugen kann. Kapitän Nemos Bibliothek erzählt die tragische Geschichte von zwei Jungen, die bei ihrer Geburt verwechselt und nach einigen Jahren zurückgetauscht werden – ein Thema, das sich auch im Leibarzt wiederfindet. Als König von Gottes Gnaden tritt Christian VII. 1766 die dänische Thronfolge an, glaubt aber ständig, ein vertauschter Bauernsohn zu sein. Enquist zeichnet ihn als hochsensiblen Jungen, der unter der Last des Regierenmüssens zerbricht.

Systematisch getrieben von den Herrschaftshungrigen am tollhausgleichen Hof, stürzt Christian immer tiefer in einen psychotischen Zustand, während sich andere im entstehenden Machtvakuum ausbreiten. Weniger aus Eigennutz als aus seiner Verpflichtung gegenüber dem aufklärerischen Ideal schlüpft Christians Leibarzt Johann Friedrich Struensee in den sich öffnenden „Spalt der Geschichte“. Dass der Altonaer Arzt Christians Vertrauen gewinnt, macht ihn bei den inoffiziellen Regenten nicht gerade beliebt. Noch weniger tun das die Hunderte von Schreibtischdekrete, mit denen Struensee in kürzester Zeit die so genannte „dänische Revolution“ in Bewegung schreibt. Eine Bewegung für das unterdrückte und dem Leibarzt doch so unbekannte Volk, die ein Ende hat, bevor sie in der Wirklichkeit angekommen ist. Ernsthaft kritisch wird die Situation nämlich, als die weibliche Hauptfigur in diesem Königsdrama auftritt. Die blutjunge englische Königin Caroline Mathilde entpuppt sich von einem Mädchen ohne Eigenschaften zu einer jungen Frau, die ihren Weg durchaus kennt: Struensee wird ihr Geliebter. „Sie hatte keine Angst, und das füllte ihn mit einer plötzlichen Furcht.“

Aber nicht nur die verbotene Liebschaft mit der Königin und sein freisinniger Geist werden Struensee zum Verhängnis: Sein Besuch endet 1772 nach nur vier Jahren vielmehr an seiner fatalen Unlust am „großen Spiel der Macht“. Ohne Verbündete steht er am Ende auf dem Schafott. Seine Ideale jedoch bleiben auch nach dem Köpfen. Nicht zuletzt durch Enquists fulminanten Roman über die Geschichte eines Arztes, dessen Schicksal es war, Revolutionär zu werden. Liv Heidbüchel

heute, 20 Uhr, Literaturhaus