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Wer kann, geht nach drüben

Die Zukunft landet im Museum, die Menschen in Rente. „Es wird wieder sortiert“, meint eine Frau aus Fahrenwalde: „Das ist Klassenkampf“

aus Vorpommern THOMAS GERLACH

In der Heidemühle bei Fahrenwalde qualmt der Ofen, das Gewehr lehnt an der Wand, Frühschoppen, es geht auf zwölf. Der Heidefürst macht die Runde, ein Klarer ohne viel Schnörkel, rein in die Gläser, ab in den Hals. Albert redet sich in Fahrt. „Und da hat der Ewald sein Gemächt rausgeholt, die blauen Flecken gezeigt und gerufen: Sind das etwa Jungenstreiche?!“ Albert sitzt aufrecht und rollt mit der Zunge, Erich, Fritz und die anderen nicken. Genau so war es auf der Gemeindeversammlung.

Was soll man machen, wenn die Staatsanwaltschaft nichts tut? Den Ewald mit seinen zweieinhalb Zentnern haben sie niedergetreten. Die Bande. Erika Schünemann, weißes Haar und helle Stimme, gibt den Fürsten rum. „Die älteste Wirtin Deutschlands, seit 1950 im Dienst!“, sagt einer. „Stimmt’s, Erika!?“ Damals hat die Mühle noch geklappert. „Die Jugend fehlt“, sagt Andreas, ein Jäger. Was bleibt, ist die Bande. Um die kümmerte sich jetzt die Dorfversammlung mit Polizei und Bürgermeister in der Kulturscheune. Die Leute verlangen Sicherheit und die Polizei Zeugen. Wer will aussagen, wenn die mit Brandstiftung drohen? Warum denn Zeugen, wenn es Spuren gibt?

Die Polizei kann nicht garantieren, dass sie gleich zur Stelle ist: Das Revier ist groß, das Personal gering. Wenn anderswo ein Unfall ist, was dann? Spuren allein sind keine Hilfe. Als das Wort Jungenstreiche fiel, hat der Ewald seine Hose aufgeknöpft. Und keiner hat gelacht.

Von ABM zu SAM

„Die paar Jahre noch ...“ Walter Krümmel brummelt und verrammelt die Schmiedetür. Was? „Die paar Jahre noch, hab ich gesagt!“ Er schwenkt die Taschenlampe. Ach so. Ein paar Mal Ostern, Weihnachten und Deutsche Einheit, dann ist der ehrenamtliche Bürgermeister von Fahrenwalde das, was die meisten hier schon sind: Rentner. Mit Überweisung, nicht viel, aber regelmäßig, keine Bange um Arbeit oder ABM, keine Bewerbung, keine Absage. Hauptsache, gesund und die Bude ist warm. Walter Krümmel muss zehn Jahre überbrücken. So lange wird sich der 55-Jährige von ABM zu SAM, zur strukturanpassenden Maßnahme und wieder zurück, retten, er wird Strohscheren pinseln, Eggen schweißen und die Dreschmaschine restaurieren, das Museum für Landtechnik in der Schmiede wird wachsen, die Zahl der Alten im Dorf auch. Die Zukunft von vorgestern landet im Museum, die Menschen in Rente.

So ist das in Fahrenwalde bei Pasewalk in Vorpommern mit seinen 430 Bewohnern, über zwei Drittel davon Alte. Daran wird Krümmel nichts ändern, den sie hier vor sechs Jahren zum Bürgermeister wählten. Ein Dorf wie viele im Uecker-Randow-Kreis, dem östlichsten Kreis in Mecklenburg-Vorpommern. Ein Dorf eben. Was ist ein Dorf im Pommerland? Nichts – wenn es die Bande nicht gäbe.

Die Bande: Jugendliche, Kinder noch, strafunmündig, ein Säufer. Vier Anzeigen in zehn Tagen: Trunkenheit, Bedrohung, Schlägerei, Körperverletzung, umgeworfene Grabsteine, das abgefackelte Sportlerheim, Diebstahl, Vandalismus, die Prügelei zu Silvester, Ewalds blaue Flecke und der Jäger aus Berlin, den sie zertreten wollten. „An und für sich sind’s doch nur ein paar, die Randale machen, da muss mal Ruhe einkehren“, brummelt Walter Krümmel und stiefelt über den Hof. Pubertierende aus den Vorwerken. Ein 15-jähriger Alkoholiker, eine Hand voll Verrückter und ein junges Mädchen. Was kann Krümmel dafür, dass es so ist? „Das geht doch auch an die Substanz! Das war doch zu sehen auf der Versammlung.“

Zur Lehre nach Dresden

Bürgermeister Krümmel reißt die Tür auf. Holztische und Bänke, ein Billardtisch und Fotos aus der Zeit, als die Dreschmaschine noch summte. Nachmittags ist die Kulturscheune Kinder- und Jugendclub, auch Saal fürs Rentnercafé, abends ist der umgebaute Stall Treffpunkt für den Jagdverein, die Reiter und die Dorfversammlung. Jetzt sitzt Petra Wengel drin, spießt Pailletten auf und sticht sie in einen Styroporball. Das stumpfe Ding wird zur Glitzerkugel, Augen leuchten von Kerstin und Mandy, Jana und Katja, Fabian und Sandro. Christian und Michael lassen Billardkugeln knallen. Es gibt junge Leute. Noch. Christian geht im Sommer nach Eberswalde bei Berlin in die Lehre, Kerstin zieht nach Dresden. Zurück werden sie nicht kommen. Braucht sie hier jemand? „Woolworth in Pasewalk nimmt für Ferienjobs nur Gymnasiasten“, sagt Christian, der Realschüler.

Petra Wengel sticht Nadeln, hört zu, hält inne und nickt: „Irgendwo wird wieder sortiert. Das ist“, sie zögert, denn das Wort ist groß: „Klassenkampf.“ Michael ist unschlüssig. Er will es hier mit Bewerbungen versuchen. Zurzeit macht das Schreiben Probleme. Die rechte Hand steckt im Verband. Der 17-Jährige hat sich mit der Bande angelegt, als die seine Mutter bedrohte. Michael hat ein gebrochenes Gelenk. Tags darauf haben sie den Jäger blutig getreten.

„Warum geht ihr nicht gleich in die alten Länder?“ Dumm, dass der Westen vier Autostunden weg ist. Petra Wengels Rat ist kurz. Hier gibt es keine Aufgabe, bestenfalls eine Beschaffungsmaßnahme. Sie selbst hat Ruhe bis August. Kinderbetreuung, Kaffeekochen, Basteln – als ABM, wie vor fünf Jahren. Nach einer Umschulung zur Hauswirtschafterin, nach Arbeitslosengeld, Arbeitslosenhilfe, Forstarbeit. ABM bis August, und bis zur Rente ist es weit. Besser, die Jugend geht, solange sie kann.

„Ich könnte es mir leicht machen und sagen, diese kriminellen Jugendlichen gehen nicht in meine Schule.“ Schulleiter Norbert Haack im Schulzentrum Ost in Pasewalk hat stolz die Toilette gezeigt. Blitzende Keramik, weiße Türen, rote Griffe, tadellos. „Da sehen Sie doch als Erstes, wie die Schüler mit den Sachen umgehen!“ Spricht’s und läuft treppauf, treppab. Kantine, Computerkabinett und Pflanzen im Flur, eine schöne Schule – nein, die Jugend ist nicht krank, die Region auch nicht.

Aber schwindsüchtig. Gestern hat ein Vater seine Tochter abgemeldet. Der Mann hat im Westen Arbeit gefunden, die Familie nimmt er mit. Der private Aufschwung ist gelungen – in Hamburg. In Pasewalk wird sich binnen acht Jahren die Schülerzahl halbieren.

„Das hier war schon immer eine strukturschwache Gegend“, sagt Norbert Haack. Zur DDR-Zeit kamen die Werber durch die Schulen und haben die Abgänger fortgelockt, in die Kombinate nach Bitterfeld, Leuna und Schwedt. „10, 15 Prozent hatten am Ende trotzdem keine Lehrstelle. Schon zu DDR-Zeit!“ Damals hat die LPG den Rest genommen. Die Landwirtschaft nahm alle, auch so genannte Problembürger – Entwurzelte, Asoziale, Trinker. Die wurden aus dem ganzen Land hierher geschickt, wie zur Verbannung. Die Genossenschaften sind weg, die Leute blieben. Der 15-jährige Alkoholiker kommt aus solch einer Familie. Jetzt kümmert sich der sozialpsychiatrische Dienst um ihn.

Die Soldaten gehen

Als Gerhard Schröder letzten Sommer durch den Osten galoppierte, kam er auch in den Uecker-Randow-Kreis und brachte Rudolf Scharping mit. Und der versprach im Städtchen Eggesin, dass der Armeestandort sicher sei. In welcher Stärke, hat er nicht gesagt. Hat auch keiner gefragt. Wenigstens die Bundeswehr bleibt, mag mancher gedacht haben. Nun ist es raus: Von den rund 1.800 Soldaten der Artilleriekaserne bleiben 55 Sanitäter. Gewiss, es gibt noch andere Kasernen im Kreis, doch der Aderlass kann tödlich sein: Kaufkraftverlust, höhere Arbeitslosigkeit, Bevölkerungsrückgang, Wohnungsleerstand, Zahlungsunfähigkeit, Rückbau zum Dorf – der Bürgermeister der Stadt hat die Zukunft skizziert. Sein Posten ist in einigen Jahren nur noch Ehrenamt.

Da ist es fast ein Wunder, dass ein Amerikaner den Weg hierher gefunden hat. Er öffnete ein Call-Center in Pasewalk, die klare Aussprache und die niedrigen Löhne haben ihn wohl gelockt. 500 Arbeitsplätze sind’s, 200 kommen noch. Frauen nehmen Bestellungen aus Edelkatalogen engegen. Einer der Renner: ein Humidor aus Zedernholz, knapp 150 Mark, für Zigarrenfans.

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