: Kirche goes Cultural Studies
■ Mit „Die innere Sicherheit“ startet die Film- und Diskussionsreihe Lebensbilder
Auf die Frage, welche Form des Zusammenlebens in einer Gesellschaft die katholische Kirche heute favorisiere, würden die meisten wohl ohne Zögern antworten: „Die Familie“. Bis in die jünste Zeit hat sich die Kirche als Gralshüterin dieses scheinbar überzeitlichen Gesellschaftsmoleküls in Szene gesetzt. Um so überraschender, dass nun die Katholische Akademie zusammen mit der Nordelbischen Medienzentrale und dem Abaton-Kino in einer Film- und Diskussionsreihe der massenhaften Existenz „anderer Lebensformen“ Anerkennung zollt.
Zwar behauptet noch die Ankündigung, „Vereinzelung“ und „Existenzkampf“ seien inzwischen fast zum gesellschaftlichen Normalfall geworden – und man hört schon die Klage über einen angeblichen Werteverfall, der durch die Kultur der (selbstverständlich unglücklichen) Singles auf dem Vormarsch sei. In den ausnahmslos deutschen Produktionen, die von dieser Woche an zu sehen sind, geht es aber fast durchweg um (mehr oder weniger gelungene) gemeinschaftliche Formen jenseits der hierarchisch und autoritär strukturierten Familie.
An erster Stelle der inszenierten „Lebensbilder“ – so der Titel der Reihe – steht mit Sicherheit „Freundschaft“. In Kanak Attack, Absolute Giganten oder Oi! Warning beispielsweise ist sie zentral. Keiner dieser Filme räumt der (zweigeschlechtlichen) Liebe eine tragende Rolle ein, schon gar nicht mit dem Ziel Ehehafen. In Oi! Warning existiert die Kleinzelle Mama-Papa-Kind nur noch als Farce, und Kanak Attack feiert – vielleicht etwas zu pathetisch – die Clique noch über den Tod hinaus als verläss-lichste Form des Zusammenlebens.
Nicht umsonst dürfte die Reihe mit Christian Petzolds Die innere Sicherheit starten. Der Wille, den Film als Auseinandersetzung mit der Geschichte der RAF zu verstehen und dann als unpolitisch zu qualifizieren, hat den meisten ZuschauerInnen gründlich den Blick verstellt auf die Politik des Privaten, die Petzold sehr genau an der Kleinfamilie im Untergrund entworfen und anschaulich gemacht hat. Nicht nur das Ungewöhnliche ihrer Situation, auf der Flucht zu sein, sich konspirativ und eingeschworen verhalten zu müssen, bringt die Beteiligten dazu, sich so anders zueinander zu verhalten als „normale“ Familien. Die drei, Mutter, Vater, Tochter, versuchen auch von sich aus, mit der tradierten sexuellen Ökonomie und den Hierarchien in ihrer Familie neuartig umzugehen. Es ist Petzold hoch anzurechnen, dass er die Familie nicht als Rückzug und letzte Niederlage von ehemaligen Militanten inszeniert, sondern als Fortsetzung ihres Kampfs für ein besseres Leben, nur eben mit anderen Mitteln.
Themen, die die InitiatorInnen der Reihe außerdem umtreiben, sind laut Ankündigung die „Abgrenzung zwischen ,Ossis' und ,Wessis', die Probleme von Arbeitslosigkeit, Perspektivlosigkeit und wachsender Fremdenfeindlichkeit“.
Außer an den bereits genannten Filmen soll an Gran Paradiso, Grüne Wüs-te, alaska.de, Vergiss Amerika und Härtetest – jeweils möglichst mit den FilmemacherInnen selbst – diskutiert werden, „welche Lebenswirklichkeit neue deutsche Filme widerspiegeln und welche Lebensbilder sie zeichnen“. Hoffentlich werden Wirklichkeit und Utopie auch wirklich auseinander gehalten.
Christiane Müller-Lobeck
Die innere Sicherheit: Sa, 20 Uhr, in Anwesenheit von Christian Petzold und Julia Hummer; Gran Paradiso: Mo, 26.3., 20 Uhr, in Anwesenheit von Miguel Alexandre, Abaton; die Reihe wird im April und im Mai fortgesetzt
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