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Auf der Baustelle der Gefühle

Ulrich Woelk erzählt von einem Partnertausch. Sein Buch „Liebespaare“ ist ein Beziehungsroman ist eine Milieustudie ist ein Gesellschaftspanorama. Die Figuren stammen aus dem so genannten gehobenen postmodernen Milieu. Vorsicht: Bei der Lektüre kann es zu Wiedererkennungseffekten kommen

von DIRK KNIPPHALS

Gut vier Jahre schrieb Ulrich Woelk an diesem Roman. Als er damit begann, 1996 also, hatten wir noch den anderen Kanzler. In der Mitte unserer neuen Hauptstadt kreisten unermüdlich die Baukräne. Bis zum Millenniumswechsel, heute sowohl als Wort wie als Ereignis fast schon wieder vergessen, dauerte es noch ein bisschen. Im neuen Berlin kurz vor der Jahrtausendwende lässt Woelk sein Buch spielen.

Ein Roman aus dem Herzen der Berliner Republik? So sieht’s aus. Wobei, schließlich geht es hier um Gefühle, das Buch mit einer ganzen Reihe emotionaler Widerhaken ausgerüstet ist. Der Anfang der Niederschrift fiel zum Beispiel auch ungefähr in die Zeit, als der Film „Das Leben ist eine Baustelle“ in die Kinos kam. Allen fiel damals ein Graffito auf, das kurz in einer Szene zu sehen war: „Die Liebe in den Zeiten der Kohl-Ära“ stand da an einen Bauzaun geschmiert. Was der Spruch genau zu besagen hatte, blieb unklar, eine Zeitstimmung erhaschte er aber wie im Vorbeiflug: Die Ahnung, dass das mit der Liebe komplizierter geworden war, steckte in dem Wortspiel, dass es schwieriger geworden war, zusammenzukommen, dass es aber auch wieder wichtiger werden könnte, zusammenzubleiben – die durchaus verblüffende Verbindung der Signalwörter „Liebe“ und „Kohl“ hatte sowohl etwas von Hohn als auch von trotziger Behauptung. Vielleicht die dezenteste Formulierung von Unbehagen an der, wie viele sagten, im Entstehen begriffenen Berliner Republik.

Jedenfalls vermehrten sich, während Ulrich Woelk am Schreibtisch über den „Liebespaaren“ brütete, um ihn herum die Stimmen, die endgültig kältere, nach ökonomischen Modellen ausgerichtete soziale Beziehungen prophezeiten (der Erfolg von Michel Houellebecq bereitete sich untergründig vor); zeitgleich war zumindest partiell ein Abschiednehmen vom postmodernen Singleparadigma zu registrieren. Kann gut sein, dass seitdem von einer Wiederentdeckung des „Gebundenseins“ zu reden ist – oder wie auch immer die aktuellen Formeln für das lauten, was man in einer früheren Semantik Liebe und in einer abgeklärteren Sprache Beziehung nannte.

Kohl ist nicht mehr; von der Berliner Republik zu reden ist ein bisschen aus der Mode gekommen, und was ist inzwischen mit der Liebe? Vielleicht kann man sich auf folgende Beschreibung einigen: Für Freunde übersichtlicher Verhältnisse herrschen irritierende Zeiten. Die Trenddesigner unserer Illustrierten und Wochenmagazine aber können fröhlich die Ärmel hochkrempeln, um im Grunde beliebig in der einen Woche auf dem Titelbild die Vereinzelung der Gesellschaft zu beklagen und in der nächsten die neue Zweisamkeit auszurufen: Irgendeine Zielgruppe wird sich schon jeweils angesprochen fühlen.

Das aber ist ein starkes Indiz dafür, dass die Entwicklung nicht in eine Richtung läuft, sondern in alle Richtungen gleichzeitig: Die Möglichkeiten zur Vereinsamung nehmen ebenso zu wie die zu vielfältigen sozialen Beziehungen („Alles ufert aus: die Dummheit, die Klugheit“: So ein Satz zeigt, dass Woelk ein auf Ausdifferenzierungen achtendes Denken nicht fremd ist.) Irgendwo inmitten dieser Entwicklungen – zwischen Irritation und Zweisamkeit, zwischen Vereinzelung und neuer Partnerschaft – hocken Ulrich Woelks Figuren.

Kennt man? Kennt man. Auch sonst sind Wiedererkennungs- und Spiegelungseffekte beim Lesen dieses Buchs nicht auszuschließen. Mit seinen drei vorangegangenen Romanen, „Freigang“, „Rückspiel“ und „Amerikanische Reise“, hat sich Ulrich Woelk ganz zu Recht den Ruf erschrieben, ein Chronist seiner Generation zu sein. Die Helden seiner Bücher haben die Neigung, sich parallel zu dem 1960 geborenen Autor zu entwickeln. In „Liebespaare“, seinem bislang ehrgeizigsten und am breitesten angelegten Projekt, sind sie in der Lebensphase von Ende dreißig angekommen: einige Lebensträume begraben, dafür, wenn’s gut gelaufen ist, beruflich etabliert, wobei sich schon erste Ahnungen eines Horrors bemerkbar machen, dass das jetzt immer so weitergeht.

Das Buch ist ein Liebesroman ist eine Milieustudie ist ein Gesellschaftspanorama. Während man Fred und Nora Saltz kennen lernt sowie Christa und Robert Hanson, zwei Paare, deren „Frühsommer der Liebe“ jeweils vorbei ist und die im Verlauf des Geschehens den Vollzug eines Partnertauschs melden können (und müssen), ist man mitten drin im so genannten gehobenen postmodernen Milieu: Robert ist Schriftsteller (eher nicht so erfolgreich), Fred Storyliner bei einer Fernseh-Soap (erfolgreich, aber mit Sinnproblemen), Nora promoviert über „Döblins Frauengestalten“ (gegen Ende mit „frisch gebackenem Doktorenlächeln“), und Christa (von allen beruflich die Unehrgeizigste) betreut VIPs. Man trifft sich, plaudert, beim Essen, in den italienischen Ferienhäusern, begibt sich auf die Suche nach dem „Leben, wie es einst gemeint war“, und schaut der eigenen Libido beim Drängen und Drängeln zu. „Mit ihren komplizierten Verschlingungen, findet Fred, sind Spagetti eine Allegorie des Lebens: Handlungsfäden, Schicksale.“ Wer dieses Bild weiterspinnen wollte, könnte behaupten, Woelk greife mitten hinein in die Pasta des Gefühlslebens.

Die Geschichte also ist überschaubar; auch wenn sich beim ersten Lesen der ganz naive Schmökereffekt einstellt und man wissen will, wie es denn nun ausgeht mit diesen Liebesdingen, kommt es auf sie gar nicht recht an. Schon eher aufs Ambiente. Viel Mühe verwendet Ulrich Woelk darauf, die Handlung genau zu verorten. Orte, Speiseabfolgen, Weinmarken, alles genau beobachtet und beglaubigt. Irgendwann wird man diesen Roman wie ein Geschichtsbuch verwenden können. Was man in der kreativ tätigen Mittelschicht in den letzten Jahren des vergangenen Jahrtausends aß, trug, redete, hier steht es schwarz auf weiß.

Zu Woelks Strategien, eine wenn auch gerade vergangene Gegenwärtigkeit herzustellen, gehören auch etwas bedeutungsschwer vorgetragene Filmzitate, etwa aus „From Dusk Till Dawn“ oder mehrfach aus „Titanic“. Sie zählen zu den eher vordergründigen Seiten, die das Buch unbedingt hat. Wer zudem nach kitschigen Stellen fahnden möchte, wird auch welche finden. Dafür aber kommt der höhere Kitsch nicht vor, die Liebe noch in irgendeiner Form romantisch gegen die Gesellschaft aufzuladen. Bindungssehnsüchte, Bindungsunfähigkeiten haben hier nur etwas mit den handelnden Figuren selbst zu tun. Das ist, wenn man bedenkt, wie schnell man sonst vom Kuschelsex oder irgendwie dialektisch von emotionalen Kälteszenarien zur Globalisierungskritik kommt, eine gute Nachricht. (Ob die „neue Sehnsucht nach stabiler Zweisamkeit“ eine „Reaktion auf Tempo und Kälte der globalisierten Ökonomie“ sei, fragte sich dagegen besorgt neulich der Spiegel, und wie viel ins Negative gedrehter Idealismus in den Unglücksszenarien Michel Houellebecqs versteckt ist, ist eine Geschichte für sich.)

Man muss etwas von der auf Realismus getrimmten Oberfläche dieses Romans zurücktreten, um wahrzunehmen, dass es vor allem sein Liebesbegriff ist, der Woelks Erzählen so zeitgemäß macht. Woelk erzählt keine Probleme um die Liebe herum. Für seine Figuren ist die Liebe selbst zum Problem geworden. Bei Woelk ist die Liebe nicht von irgendeiner Instanz von außen bedroht und auch selbst keine Bedrohung. Es ist halt nur so, dass, selbst wenn alles gut läuft mit der Liebe, irgendetwas irgendwann schief laufen kann. Das beklagt Woelk nicht, sondern er geht dem im Bewusstsein seines Personals nach, auch wenn er gegen Schluss des Romans manchen Kolportagekniff anwenden muss, um das Melancholische der Erkenntnis voll auszuspielen.

Die Liebe in der Ära der neuen Mitte. Mittlerweile 18 Jahre alt, also sozusagen volljährig geworden ist inzwischen der coole Satz Niklas Luhmanns, dass sich die „heute vorfindbare Situation der Liebessemantik [. . .] vom Ideal über das Paradox zum Problem hin gewandelt zu haben“ scheint, „und das Problem wäre dann ganz einfach: einen Partner für eine Intimbeziehung finden und binden zu können“ (aus „Liebe als Passion“). Wenn man hinzufügt, dass dieses Problem mit dem Partner wenig, viel aber mit der jeweiligen Figur selbst zu tun hat, und das der Figur auch durchaus bewusst ist, kann man mit dieser Wendung Ulrich Woelks Buch erstaunlich gut auf den Punkt bringen. Aber seine Kälte trifft dann doch nicht ganz. Woelk ist, obwohl er sich über weite Strecken ziemliche Mühe gibt, kein unbeteiligter Inszenator eines Experiments über heutige Gefühlswelten. Dazu mag er seine Figuren zu sehr.

Wer sich aber darüber hinaus noch ein wenig im gegenwärtigen gesellschaftsinteressierten Aufsatzwesen umtut, kann auch auf einen Satz des Sozialphilosophen Axel Honneth stoßen. Er eignet sich eher, die manchmal nervende, manchmal berührende, gleichsam ständig auf der Kippe stehende gefühlige Subschicht des Buchs aufzuschließen. Der Satz lautet: „Mit unserer Zuneigung ermutigen wir eine andere Person, sich uns in einer Weise emotional zu öffnen, die sie in einem solchen besonderen Maße versehrbar macht, dass sie statt moralischen Respekt unser ganzes Wohlwollen verdient.“

Emotional öffnen, versehrbar machen, uneingeschränktes Wohlwollen geben – das sind genau die Punkte, an die Ulrich Woelk seine Figuren permanent treibt, um sie dann ebenso beharrlich an ihnen scheitern zu lassen. Im Grunde wollen die Figuren einen Liebesroman erleben, sind dann aber überfordert und können sich letztendlich nur auf die Höhe einer Soap-Opera aufschwingen. Was neben dem Nachteil gelegentlich depressiver Gestimmtheit immerhin einen Vorteil hat: Liebesromane enden; meistens tragisch. Soap-Operas gehen weiter und weiter und weiter. „Sie sind da. Ein Mann und eine Frau. Hier. Zu zweit.“ So schließt das Buch. Ein Tor, wer in diesem Bild nur den Kitsch sieht. Vom ihm aus ist alles möglich.

Die Liebe ist eine Baustelle.

Ulrich Woelk: „Liebespaare“. Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2001. 448 Seiten, 44,90 DM

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