: Könnten Sie diese Katzen essen?
Tiere, nicht Menschen: Während sich das Gefühl für soziale Verantwortung auf gehirnkranke Rinder und Kaninchen mit schwerer Kindheit verlagert, führt die biologisch unterfütterte Zivilisationskritik zu immer neuen Kontrollmechanismen
von MARK TERKESSIDIS
Vor einiger Zeit entdeckte eine Bekannte von mir die Tierliebe. Mittlerweile wird ihre Wohnung von fünf Haustieren bevölkert, wobei außer ihren beiden Katzen alle restlichen Mitbewohner aus dem Tierheim stammen. Liebevoll betreut sie nun einen Dackel mit Herzleiden, ein Kaninchen, das immer noch schwer unter den Folgeerscheinungen von Deprivation leidet, sowie einen Collie mit Drogenvergangenheit (seine heroinsüchtigen Herrchen und Frauchen hatten ihm offenbar Stoff in die Mahlzeiten gemischt).
Den Tieren geht es gut. Meine Bekannte füttert sie mit allerlei Köstlichkeiten, wenn es ihr Geldbeutel erlaubt. Für die Katzen kauft sie gern Pute, feine Rinderrouladen oder Straußenfilet; und das, obwohl sie selbst Vegetarierin ist. Den Vegetarismus haben ihre beiden Töchter in die Familie eingeführt. Die scheuen sich zwar nicht, offen ihre Verachtung für „Asis“ zu zeigen, doch wer nach einer Taube tritt, hat in ihren Augen keine Gnade zu erwarten. Meine Bekannte hat sich früher aufopfernd im kirchlichen Jugendzentrum für ebensolche „Asis“ engagiert – für Jugendliche auf der schiefen Bahn. Indessen teilt sie jedoch die Meinung ihrer Töchter. Tiere sind einfach angenehmer.
Die Tierliebe meiner Bekannten könnte man einfach interpretieren: Sie ist geschieden, die Kinder sind aus dem Haus und sie hat sich einen Ersatz gesucht. Diese Erklärung jedoch ist so schlicht wie blöd. Tatsächlich lebt sie mit den Tieren ein gesellschaftliches Interesse aus: Ihr starkes Gefühl für soziale Verantwortung hat sich auf die Tiere verlagert. Und deren Betreuung ist zweifelsohne befriedigender: Sie sind ein perfektes Objekt, um sowohl Helfersyndrom als auch Allmachtsfantasien auszuleben.
Wer jemals zur Mittagszeit eines der Boulevardmagazine in den Privatsendern angeschaut hat, der wird an solchen Bedürfnisse nichts Ungewöhnliches finden: Gequälte Tiere oder solche mit Problemen sind dort gern gesehene Gäste. Nachdem sich das notorische mittelständische schlechte Gewissen in den letzten Jahrzehnten allen möglichen Objekten zugewandt hat – von den Arbeitern zu den Unterdrückten der Dritten Welt, von den Drogensüchtigen zu den Asylbewerbern, von den vernächlässigten Jugendlichen zu den Kosovo-Albanern – und allesamt sich am Ende doch als gefährliche Schläger, Mörder, Betrüger, Durchgeknallte oder Extremisten entpuppt haben, bleibt schließlich der Einsatz für ein Lebewesen von erhabener Unschuld: das Tier.
Und ist es nicht mit uns Menschen zutiefst verwandt? Sowohl alternative Tierrechtler als auch Evolutionsbiologen haben festgestellt: Das Tier ist wie wir. Und nun: Massen-„Keulungen“ und Scheiterhaufen. „Jetzt töten sie die Lämmer“, titelt Bild zur Illustration eines reizenden Schäfleins. In der Welt am Sonntag spricht ein christlicher Autor vom „schlimmsten Massenmord am Mitgeschöpf seit Menschengedenken“. Er verweist sogar auf Arnold Toynbees Rede vom „Tier-Holocaust“, den dieser für den dekadenten Tierverschleiß der römischen Antike prägte.
Noch vor einem halben Jahr freilich war der Aufschrei groß, als die Halter von Pitbullterriern ihren Hunden angesichts der allgemeinen Anti-„Kampfhund“-Affekte bei einer Demonstration einen gelben Stern anheften wollten. Zu jener Zeit musste man beim Anschalten des Fernsehers damit rechnen, in das grauenhaft fletschende Maul eines Pitbulls zu blicken. In Köln saß, wie die örtliche Boulevardzeitung Express zustimmend berichtete, der erste „nicht resozialisierbare“ Kampfhund in der „Todeszelle“ und wartete auf seine Giftspritze. Schließlich ging es hier um „blutrünstige Beiß-“ oder „Tötungsmaschinen“, um „Killer-Hunde“, über deren rasche Ausmerzung Konsens bestand.
Niemand würde bestreiten, dass es massiven Veränderungsbedarf rund um die Tierhaltung in der Bundesrepublik Deutschland gibt. Doch im öffentlichen Gespräch sind Tiere wenig mehr als diskursive Verschiebemasse – Gegenstände, an denen sich gesellschaftliche Konflikte aufhängen lassen. Die Übertreibung ist stets präsent. Zumeist geht es überhaupt nicht um Politik, um den sozialen Hintergrund der vermehrten Kampfhundhaltung etwa oder um realistische Programme zur Veränderung der industriellen Tierverarbeitung. Es geht in erster Linie um individuelle Ängste. Wie bewege ich mich in der Öffentlichkeit? Wie kann ich noch soziale Verantwortung zeigen? Was kann ich essen? Derweil kann man nicht nur so paradoxe Phänomene beobachten wie Vegetarier, die ihren Haustieren feinste Fleischspeisen kredenzen, sondern auch tagtäglich solche Szenen beobachten, wie sie Harald Schmidt kürzlich zum Besten gab: Ein Mann erzählt der Bäckerin mit angsterfülltem Blick, dass er bei Fleisch doch mittlerweile starke Bedenken habe, um kurz darauf den Tabakladen mit zwei Stangen Zigaretten unter dem Arm zu verlassen. Es ist ein allzu bekannter Kanon von Problemen, der in der Berichterstattung über Tiere ausgebreitet wird. Als das Kampfhundverbot durchgesetzt war, sah Bild etwa eine „Welle“ von ausgesetzten, herrenlosen Kampfhunden auf Deutschlands Straßen schwappen. Zudem wurde behauptet, eine ausländische „Kampfhund-Mafia“ stehe bereit, um die Tiere über die Grenzen zu „schleusen“. Angesichts der Maul- und Klauenseuche beschwor die Süddeutsche Zeitung einen „Virus, schnell wie der Wind“ und sprach im militärischen Tonfall von der „Invasion der Infektion“. Der Express stellte schließlich fest: „Angst! Sichere Grenzen gibt es nicht.“ Zum einen kommt in Deutschland alles Böse weiterhin aus dem Ausland – ob es nun um Drogen, Flüchtlinge, Kampfmaschinen oder Viren geht. Zum anderen werden soziale Probleme in biologische Prozesse verwandelt: Politik als Seuchenschutz.
Auch das Verhältnis zum Tier kommt nicht ohne Ambivalenzen aus: Zwar steckt letztlich immer der Mensch dahinter, doch das Tier kann zur Bedrohung werden – zur Waffe oder zum möglichen Infektionsherd wie im Falle BSE. Tatsächlich teilen wir uns mittlerweile mit den Rindern die gleichen Hirnpathologien: Erwiesen ist die Übertragbarkeit von BSE und Creutzfeldt-Jakob nicht, doch die Prozesse im Gehirn ähneln sich stark. Im Kölner Karneval waren Verkleidungen als BSE-Rind in diesem Jahr nicht umsonst der Renner. Allerdings ist die Krankheit für den Menschen weit weniger bedrohlich als vermutet: Es gibt nicht einmal einen Fall auf eine Million Einwohner in der EU. Offenbar handelt es sich um jene „Krankheit als Metapher“, über die Susan Sontag Ende der Siebzigerjahre schrieb.
Die Angst vor BSE/Creutzfeldt-Jakob ist ebenso wie die Angst vor Entgrenzung nur aus dem gesellschaftlichen Kontext zu verstehen. Sind pathologische Hirnstörungen nicht das perfekte Phantasma der so genannten Wissensgesellschaft, in welcher nicht länger der Körper, sondern das Gehirn als Ressource der Produktivität gilt? Die Erkrankung an Creutzfeldt-Jakob sorgt dafür, dass die Nervenzellen im Gehirn anschwellen, den Kontakt zu anderen Zellen verlieren und sogar ausfallen können. Dadurch wird das Hirn löchrig wie ein Schwamm. Das führt zum Ausfall der „Informationsverarbeitung“ und greift schließlich auf den Körper über, der jede Koordination verliert. Diese Krankheit ist ohne jeden Zweifel eine Monstrosität in den Zeiten von „Neuer Mitte“ und „New Economy“: Von der „Fitness“ des Hirnarbeiters mit seinem perfekt trainierten und gestylten Körper könnte wenig mehr übrig bleiben als ein auf den Knien rutschendes, irres Tier.
„Hauptkrankheiten wie Tb oder Krebs“, schrieb Susan Sontag, „sind in einem spezifischen Sinne polemisch. Sie werden verwendet, um neue, kritische Maßstäbe individueller Gesundheit und ein Gefühl der Unzufriedenheit mit der Gesellschaft als solcher auszudrücken.“ Freilich müssen weder Maßstäbe noch Unzufriedenheit besonders fortschrittlich sein. Aus dem Gemisch zwischen übertriebenen Ängsten und einer biologisch unterfütterten Zivilisationskritik entstehen derzeit neue Kontrollmechanismen. Der Einzelne wird gezwungen, in den Tagen der nachlassenden gemeinschaftlichen Gesundheitsvorsorge für sich selbst zu sorgen: Selbst die unerbittlichsten Liebhaber fetter Küche werden nun in den Terror der „leichten Ernährung“ und ständigen Körperüberwachung à la Fit for Fun einbezogen. Die Unzufriedenheit, welche andauernd zwischen Pogromstimmung und tränenreichem Mitleid schwankt, drängt auf autoritäre Lösungen – auf Grenzen eben.
Dazu kommt ein allgemeiner Zynismus über die Spielräume der Politik im Allgemeinen. Und der ist sogar durchaus gerechtfertigt. Es ist unbegreiflich, wie irgendjemand nach den bisherigen Erfahrungen mit der rot-grünen Regierung von Renate Künasts „Agrarwende“ mehr erwarten kann als große Zielvorgaben und mickerige Korrekturen – eine neue Übung in Imagepolitik. Was ist schon von einer Ministerin zu halten, die an die Lieferung von Rindfleisch nach Nordkorea – Rindfleisch, das wir selbst als „verseucht“ empfinden und nicht mehr essen wollen – auch noch Auflagen bezüglich der Verteilung knüpft. Das Tier ist wenig mehr als eine Spielmarke auf dem Terrain dieses entpolitisierten Theaters.
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