piwik no script img

Der menschliche Wahnsinn

In seiner erschütternden Chronik erzählt Nesroulah Yous nicht nur vom berüchtigten Massaker von Bentalha, sondern belegt eine umstrittene These: die Militärs bekämpfen in Algerien brutal das eigene Volk

Der Algerier Nesroulah Yous wird die blutige Nacht von Bentalha nie vergessen. Vom 22. auf den 23. September 1997 metzelten Soldaten dort mehr als 400 Menschen nieder und richteten so das schlimmste Massaker im nun bald neun Jahre dauernden algerischen Bürgerkrieg an. Der Kleinunternehmer Nesroulah Yous ist einer der wenigen, die den Albtraum überlebt haben. Kurz darauf emigrierte er mit seiner Familie nach Frankreich, wo er jetzt aufgeschrieben hat, was er in jener Schreckensnacht sah und was er seitdem darüber in Erfahrung brachte.

Sein Buch „Qui a tué qui à Bentalha? Algérie: Chronique d'un masscre annoncé“ (Wer hat in Bentalha wen getötet? Algerien: Chronik eines angekündigten Massakers) ist ein außergewöhnliches Dokument über den „Zweiten Algerienkrieg“. Nesroulah Yous beschränkt sich nicht auf das Massaker von Bentalha. Er beschreibt die Entwicklung, seitdem die Armee die Wahlen 1992 abgebrochen hat, skizziert die Rolle der Islamisten in den Dörfern rund um Algier, die Repression und die zunehmende Gewalt. Die minutiöse Untersuchung der Vorfälle in Bentalha und den umliegenden Dörfern bestätigt, was nicht nur in Algerien alle glauben: Armee und Polizei sind in die blutigen Massaker von Sommer 1997 bis Frühjahr 1998 tief verstrickt.

Bei der Verarbeitung seiner Erinnerungen und seiner Nachforschungen stand Nesroulah Yous die in Deutschland lebende algerische Journalistin Salima Mellah zur Seite. Mellah, die eine der besten Websites zum algerischen Konflikt betreut (www.algeria-watch.org), zeichnet für die zeitgeschichtliche Einordnung der schrecklichen Erinnerungen Nesroulah Yous’ verantwortlich.

„Wir haben die ganze Zeit geglaubt, dass Hilfe von außen kommen würde“, beschreibt Yous seine Gedanken, als er auf dem Dach eines Hauses versteckt mit ansehen und anhören musste, wie seine Nachbarn und Freunde grausam abgeschlachtet wurden. Als die ersten gepanzerten Fahrzeuge Richtung Bentalha vorrückten, sah Yous das Ende des Albtraums gekommen. Doch weit gefehlt: Die Armee riegelte wenige Kreuzungen entfernt den Ortsteil ab. „Macht weiter, die Soldaten werden nicht bis hierher kommen“, schreit der Anführer der Bewaffneten. Er sollte Recht behalten. „Enthauptet uns nicht. Erschießt uns bitte“, hörte Yous verzweifelte Stimmen. Vergebens: Bis heute kann er die Schnittgeräusche der Klingen nicht vergessen, die Schreie der Vergewaltigten, das Weinen der verzweifelten Mütter, deren Babys mit dem Kopf gegen die Wand geschlagen wurden, um sie zu töten.

„Warum so viel Grausamkeit“, fragte er sich auf dem Dach liegend und betend. Was er nach dem Massaker erfahren muss, geht weit über seine Vorstellungskraft hinaus. Die Soldaten waren nicht nur untätig. „Polizei und Armee haben ihre Kräfte auf dem Boulevard zusammengezogen, um unseren Ortsteil abzuriegeln“, schreibt Yous. „Die ganze Nacht versuchten die Bewohner aus anderen Teilen Bentalhas vergebens, den Massakrierten zu Hilfe zu kommen. Erst um fünf Uhr morgens gelangen die ersten Helfer von außen in den mittlerweile in Flammen stehenden Stadtteil. Die Angreifer ziehen sich langsam in die umliegenden Orangenhaine zurück. „Sie rufen denen, die sich dorthin geflohen waren, zu: ,Kommt raus, kommt raus, die Polizei ist da!‘ Einige verlassen ahnungslos ihr Versteck.“ Sie werden noch im letzten Augenblick ermordet. „Es ist unglaublich, dass diese Menschen darauf hereingefallen sind. Was hat sie Vertrauen schöpfen lassen? Hatten die Angreifer etwa ihre Afghanengewänder abgelegt?“, schreibt Yous. Und untermauert damit „die einstimmige Überzeugung aller, dass es Soldaten waren, die uns getötet haben“.

Der Autor kann das kaum glauben. „Trotz aller Indizien, die sich während unserer Recherchen bestätigten, ist für mich die Idee, dass unser Schicksal von langer Hand vorbereitet war, von einer Hand voll hoher Militärs genau kalkuliert wurde, unbegreiflich.“ Nesroulah Yous resigniert: „Ich ziehe es vor, all das dem menschlichen Wahnsinn zuzuschreiben.“ REINER WANDLER

Nesroulah Yous: „Qui a tué qui à Bentalha? Chronique d'un massacre annoncé“, Editions La Découverte, Paris 2000, 120 FF

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen