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Brot und Stile

Leben lernen in der Warenwelt: Die Ausstellung „Les Années Pop“ im Pariser Centre Pompidou zeigt die Sixties als Gesamtkunstwerk – mit einem spöttischen Argwohn gegenüber der US-Ikonografie

von HARALD FRICKE

Wer noch fliegen kann, ist gekommen. Grau meliert oder mit Glatze, in Jeans und Jackett, mit gesundem Schuhwerk für den älteren Herrn von heute. Da ist zum Beispiel James Rosenquist, ein unauffälliger Amerikaner, Ende sechzig, der zuletzt für die Deutsche Bank in Berlin großformatige Auftragsbilder gemalt hat und nun gerade zum Fototermin in seiner Ausstellungskoje verschwindet. Unterwegs begrüßt ihn ein deutscher Kollege, dessen Arbeit gegenüber von Rosenquists „Joan Crawford“-Porträt hängt. Er darf mit aufs Bild, auch wenn sich die Pressefotografen hinterher fragen, wer das eigentlich ist – Peter Klasen? Dabei lebt Klasen schon lange in Paris, war mal Teil der deutschen Realismus-Bewegung und wurde ein wenig vergessen vor lauter Warhol, Rauschenberg und Co. Das gilt auch für Peter Stämpfli aus der Schweiz, dessen detailgenau gemaltes Opel-Rekord-Heck jetzt als 68er-Kunst zwischen Kifferpostern und Flugblättern abgehandelt wird.

So grausam ist Pop: endlose Listen mit Namen, die kommen und gehen. Eine Handvoll Helden und all die Stars, die ihre 15 Minuten hatten. Vor allem ist Pop mehr als nur Malerei. Aufblasbare Sitzkissen gehören dazu, ebenso wie säuerlich riechendes Plastikgeschirr und das mittlerweile leicht angestaubte Paillettenkleid von Yves Saint Laurent. Musik natürlich auch: Die Beatles singen in einer Best-of-Schleife alle paar Minuten „Taxman“ oder „Revolution“, und bei „Sunny Afternoon“ von den Kinks bleibt ein schluffiger Rucksack-Hippie mit roten Haaren vor der Lautsprecher-Box stehen und summt die Melodie mit. Rührend, muffig, aber immer absolutely fabulous – „Les Années Pop“, die Jahre des Pop, die das Pariser Centre Pompidou im obersten Stockwerk ausstellt, sind die bislang wohl dichteste Anhäufung von Material aus der Zeit zwischen 1956 und 1968.

Noch einmal gibt es die Fruchtblasen-Siedlungen der Londoner Space-Architekten Archigram zu sehen; noch einmal liegen John Lennon und Yoko Ono für den Frieden eine Woche lang im Bett, wenn auch nur als Video; noch einmal dreht sich beim Design auf Erden alles um den Mond. Für das historische Erbe des Pop sind derweil Marco Livingstone als Kritiker und der österreichische Baumeister Hans Hollein auf einem Podium am kommenden Donnerstag zuständig; einen Tag später dürfen sich Greil Marcus und Patti Smith darüber streiten, warum Pop zu Rock wurde. Keiner bleibt verschont, 30 Jahre nach dem Ende der Sechzigerjahre.

Ein neuer Barock?

Oder sind die Sixties womöglich noch gar nicht vorüber? Ist Pop vielleicht gerade erst dabei, vom Sammelbecken für die diversen Spielarten der Massenkultur zum Synonym einer Entwicklung, wenn nicht Ära mit übergreifenden Ideen zu werden, quasi als Pendant des Barock – Früh-, Hoch- und Spätphase inklusive? Schließlich hat sich das Modell bei Diedrich Diederichsen längst in Pop I und II ausdifferenziert: von strategischen Aneignungskämpfen gegen die Logik des Kapitals zur konformen Aufbauhilfe für globale Labels, Codes und Images. Aus Campbell’s Suppendosen sind Nike-Logos geworden; wo alles machbar schien, geht plötzlich nichts mehr ohne Ausverkauf ans Schweinesystem.

Aber auch der britische Kunstkritiker Lawrence Alloway hatte Recht, als er 1958 erklärte, dass die gesellschaftliche Elite ihre Festschreibungsmacht über Kunst und Kultur an die Massen verloren habe im Namen des Pop. Oder war am Ende Saint Simon mit dem Essay zur „Organisation sociale“ der erste Poptheoretiker? Dort heißt es nach dem Scheitern von Französischer Revolution und Bonapartismus, dass Künstler – also „Menschen mit Fantasie“ – die Gesellschaft „für das Wachstum ihres Wohlergehens begeistern werden“. Diesen Satz hätte auch Andy Warhol unterschrieben – oder zumindest unterschreiben lassen von einem der vielen Gelegenheitskünstler in seiner Factory.

Trotzdem gilt Kunst nicht seit Saint Simons Ausblick von 1825 als Pop, sondern ab 1956. In diesem Jahr hatte Richard Hamilton für „This is Tomorrow“, eine Ausstellung der Londoner Independent-Group, eine 26 x 25 cm kleine Collage mit dem Titel „Was genau macht die heutigen Wohnungen so anders, so reizvoll?“ hergestellt. Das Bild zeigt ein aus Reklamen zusammengeschnipseltes Zimmer mit Comics an den Wänden, dazu Statussymbole wie Fernseher, Tonband, Staubsauger. Im Mittelpunkt des Bildes steht ein Bodybuilder, der statt Hanteln einen phallusartigen Lolly mit der Aufschrift „pop“ in der Hand hält – als Zeichen für eine Zukunft, in der sich Kunst und Alltag von high bis low nicht mehr so leicht trennen lassen würden. Tatsächlich scheint Hamiltons Interieur die Utopien aus den Nachkriegs-Fifties direkt in ein Zeitalter der neuen Machbarkeit zu katapultieren. Allerdings sieht er die Freuden der anstehenden Demokratisierung durch Waren keineswegs mit Begeisterung, sondern sehr ironisch. Die aufgefächerte Produktpalette erinnert von heute aus betrachtet eher an eine Parodie auf Propaganda, an eine Aufrüstung in der Festung des Privaten, die bald mit der nationalen Militarisierung einherging: 1957 bekannte sich Großbritannien zur US-Doktrin des atomaren Gegenschlags. Und ein Jahr später begannen die Ostermärsche. Insofern ist bei Hamilton das Unbehagen am Konsum durchaus auch Spiegel von politischen Konflikten im Kalten Krieg.

Man kann sich solche Verbindungen denken oder bei Jonathan Green, einem brillanten Chronisten der britischen Gegenkultur, in seinem Buch „All Dressed Up“ nachlesen. Nur sehen kann man diesen Pop, der eben auch soziale oder politische Widersprüche zum Thema hatte, in der Pariser Schau leider nicht – obwohl Hamilton ganz oben auf jener Liste der ausgestellten Pop-Artisten steht. Stattdessen wird nun an 700 (!) Exponaten einmal mehr belegt, dass die Sechzigerjahre ein offenes Feld waren, auf dem sich austoben konnte, wer wollte: Werbegrafiker, Modemacher, psychedelisierte Möbeldesigner und eben auch jede Menge bildender Künstler. Damit man sich nicht zu sehr im Detailwahn verliert – Pop ist ja das Style-Paradies schlechthin für Distinktionsfans und andere Fetischisten –, wurde der Parcours grobmaschig nach Jahreszahlen geflochten. Als eine Art Prolog schlendert man an Aufnahmen von Rudy Burckhardt vorbei, der ähnlich wie Walker Evans schon in den Vierzigerjahren allerhand Coca-Cola-Billboards fotografiert hat. William Kleins Broadway-Film von 1957 mixt dazu E-Musik mit einem Ballett aus Glühbirnen, die an New Yorker Hochhausfassaden als Text-Lichtorgel die neueste Kinopremiere mit James Stewart ankündigen.

Uneinholbar aktuell

Dieser Vorspann ist eine schöne Momentaufnahme zur Kultur in den amerikanischen Großstädten. Der Reichtum an Gestaltungsmitteln passt nicht nur zum Überfluss, er zeigt auch den komplexen Grad der Individualisierung in diesen Jahren an. Die Fülle der unterschiedlichen Lebensentwürfe fordert immer mehr und immer neue Bilder. Comics sind willkommen, weil sie in Miniatur Aussagen über Bedürfnisse machen, die auf der Straße diskutiert werden. Überhaupt liefern Fotos aus Tageszeitungen der Kunst die Vorlagen: als Zeugnis einer visuellen Gegenwart, an der sich der Künstler abarbeiten muss. Manche kapitulierten vor dieser uneinholbaren Aktualität und klebten lieber gleich ganze Coverstorys aus der New York Times auf die Leinwände. Doch der begleitende Kommentar an der Wand stammt nicht etwa von John Dewey, der sich damals als amerikanischer Philosoph mit einer auf Technik und Kommunikation aufbauenden Gesellschaft beschäftigte, sondern von dem französischen Maler Fernand Léger, der den raschen Wandel der Bilder in Zeiten von Massenmedien missbilligte.

Das Zitat am Eingang zu „Les Années Pop“ ist Warnung und Programm zugleich. Immerhin kam der Vorwurf an eine US-Kunst, die sich nach der Geschwindigkeit eines warenförmig gewordenen Lebens richtet, vor allem aus Frankreich. Anfang der Sechzigerjahre griff der Kritiker Pierre Restany von Paris aus Warhol und Roy Lichtenstein an, denen er wegen ihrer Oberflächlichkeit keine zwei Jahre Erfolg am Kunstmarkt zutraute. Dagegen setzte Restany auf den Nouveau Réalisme von Raymond Hains, Arman, Daniel Spoerri oder Jean Tinguely. Das Ergebnis war ein bislang doch relativ friedliches Nebeneinander von europäischen Schrott-Skulpturen und New Yorker Alltags-Ikonografie.

Erstaunlicherweise gibt es im Centre Pompidou jetzt aber vier Räume mit den Gegenentwürfen zur amerikanischen Pop-Malerei, bevor überhaupt ein einziger Warhol zu sehen ist. Auf dieser Strecke hat man den Eindruck, als hätte das Kuratorenteam die hauseigene Kunstsammlung lediglich umsortiert. Jasper Johns und Robert Rauschenberg wurden gleich ganz dem Pulk der Franzosen zugeordnet, weil ihre Mixed-Media-Arbeiten in die europäische Tradition von Kurt Schwitters’ Merzbau und Collagen-Dada passen. Damit sich diese Abkehr vom american way of painting historisch durchhalten lässt, musste allerdings Johns’ „Flag“ von 1958 in der Reihenfolge zeitlich hinter seine drei Jahre später entstandenen Bild-Objekt-Kombinationen gehängt werden. Das ist keine Schlamperei, sondern ein ziemlich großzügiger Umgang mit Geschichte, der sich von Fälschung bloß durch Naivität unterscheidet. So liegen auf der Rückseite der Johns-Abteilung in einer Vitrine mit Stecknadeln gefüllte Pumps von Lucas Samaras und Daniel Pomereulles blau bemalte Stacheldrahtrolle zusammen – wegen der formalen Gemeinsamkeiten, die den Ausstellungsmachern angeblich wichtig waren. Bei solchen Kriterien kann man ebenso gut ein Hundehalsband von Sid Vicious dazupacken, aber der war ja Punk und nicht Pop.

Gegen Hegemonien

Im Grunde geht es um absichtsvolle Missverständnisse. Natürlich weiß man auch im Centre Pompidou, dass Frankreich in Sachen Pop zweite, wenn nicht dritte Wahl gewesen ist. Gleichwohl kann das Bekenntnis zur Popkultur nicht auf eine stumpfe Hegemonie mit Amerika im Zentrum hinauslaufen, dazu ist man selbst zu sehr grande nation. Deshalb läuft ein Song von Michael Polnareff auf demselben Tape wie Velvet Underground, und in der Architektur wird Bauen made in USA als Spielwiese Walt Disneys bloßgestellt, während echte Science-Fiction-Traumhäuser im Stil der Heavy-Metal-Comics von einem gewissen Jean-Paul Jungmann entworfen werden, der zwar mit Statik nichts anfangen kann, jedoch ganz gewiss Franzose ist. Hier hätte man mit dem Urbanisten Guy Debord sogar endlich einmal einen echten Pariser Pop-Revolutionär unterbringen können. Stattdessen kommt der Situationismus nur auf einem Plakat der Studentenunruhen im Mai 68 ins Spiel, und dann auch noch ohne Debord.

So trickst man stets ein wenig an den true storys herum, je nach Besetzungsliste: Ein französischer Maler wie Alain Jacquet wird mit einem kompletten Werkraum gefeiert, Alex Katz aus New York aber völlig vergessen; Fotos von Richard Avedon gibt es nur, weil er die Beatles auf Op-Art-Postern verfremdet hat; und von Ed Ruscha wurden zwei flotte Comic-Adaptionen ausgewählt, doch die konzeptuellen Sunsetstrip-Fotoserien fehlen. Das alles ist mal charmant, mal schwatzhaft erzählt und nur ein bisschen gelogen.

Das Lächeln der Marilyn

Fast am Ende der Ausstellung angelangt, hat man Warhol nämlich doch noch eine wunderbare, silbern verkleidete Box eingerichtet, in der zwei seltene Filme wie „Vinyl“ und „Tarzan and Jane Regained . . . Sort of“ – mit Dennis Hopper im leopardenen Lendenschurz – gezeigt werden. Außerdem wurde seine Kollektion mit Monroe-Fotos sorgsam angepinnt, damit man sehen kann, wie sich aus lauter Film-Stills und Porträtfotos dieses eine Lächeln der Marilyn als Motiv für die Siebdrucke bei Warhol festgesetzt hat. Und ganz nebenbei hängt mit „Orange Car Crash“ (1963) ein überdimensionales Tafelbild aus, das lange Zeit im Depot der Ludwig-Sammlung gelagert war, jetzt aber in seiner monochromen Prächtigkeit wie die Himmelfahrt der gesamten Pop-Art daherkommt.

Das ist echte Noblesse oblige, das ist lässig, das ist – nun ja – schon sehr pop. Dafür muss man die Ausstellungsmacher des Centre Pompidou doch wieder lieben. Und auch dafür, dass sie mit „Ferrari“ ein ebenso unbekanntes wie außergewöhnliches Bild von Gerhard Richter aus dem fernab gelegenen, legendäre Kunstschätze bergenden Fort Worth Museum in Texas eingeflogen haben. Vermutlich liegt die große Kunst der Inszenierung in dieser weit ausholenden Geste: Erst vor dem Hintergrund der Geringschätzung, dem leicht spöttischen Argwohn gegenüber Pop als Allerweltskunst findet in Paris eine Annäherung an dessen Phänomene statt. Das Ergebnis liegt irgendwo zwischen high und low – und damit auf Augenhöhe zur Pop-Art. Oder um bei einer Beschreibung von Richard Hamilton zu bleiben: „Populär (für ein Massenpublikum entworfen) / vergänglich (kurzfristige Lösung) / entbehrlich (schnell vergessen) / billig / in Serie produziert / jung (auf Jugend zugeschnitten) / witzig / sexy / trickreich / schillernd im Zeitalter des Massenkonsums / das große Geschäft . . .“ Ein Gesamtkunstwerk eben.

Bis 18. 6., Centre Pompidou, Paris. Der Katalog, eine übergreifende Chronik von 1956 bis 1968, kostet 360 Franc (gebunden 440 Franc).

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