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Kunststücke des Ödipus

„Schicksal“ heißt der neue Roman von Tim Parks, aber es geht um Familie. Mit seinem Gedankenkarussell umkreist der Autor die Krankheit Liebe und schleudert den Leser zuletzt als Trabanten ins Ego-Universum. Man begreift: Aus dem Geisterhaus der geschilderten Ehe zieht kein Bewohner aus

von FRAUKE MEYER-GOSAU

Fabelhaft, einfach fabelhaft! Wir befinden uns im noblen Londoner Hotel Rembrandt – dort, wo die Teppiche so dick sind, dass die Gäste nicht mal im Frühstückssaal durch das Schabegeräusch zurückgeschobener Stühle einander auf die Nerven gehen. Gerade hat Mr. Burton sich entschieden, nach Spiegeleiern, Schinken, Bratwürstchen und Toast mit Orangenmarmelade unvernünftigerweise auch noch einen geräucherten Hering zu sich zu nehmen. Gerade hat er in den Zeitungen die Fotos des neuen Premiers Tony Blair studiert, dessen erste Amtshandlung darin besteht, den Kindern in der Schule den Gebrauch von Taschenrechnern zu untersagen: „Mit Tony müsst ihr rechnen“, jubeln die Zeitungen. Und Mr. Burton hat uns wissen lassen, dass er, ehemals ein erfolgreicher Italienkorrespondent bedeutender Blätter, sich aus seinem Beruf zurückgezogen hat, um ein Standardwerk zu verfassen: über die Vorhersagbarkeit menschlichen Verhaltens. Mr. Burton, der vorhersieht, dass der geräucherte Hering in seinem Innern nichts Gutes anrichten wird, ist entschlossen, sich selbst mit diesem Buch ein Denkmal zu setzen. Nur ein Interview mit dem einst mächtigsten Mann Italiens, dem nun unter Anklage stehenden Expremier Andreotti, fehlt ihm noch. Mr. Burton erhebt sich, um an der Rezeption den Aufenthalt für sich und seine Frau um eine weitere Woche zu verlängern. Und erfährt, dass sein Sohn Marco sich in Italien umgebracht hat.

Wie das erzählt ist: fabelhaft! Gäbe es einen Preis für das virtuoseste erste Kapitel eines Romans, Tim Parks hätte ihn mit „Schicksal“ schon in der Tasche. Denn das ist ja beileibe noch nicht alles, womit er seine Leser auf den ersten 14 Seiten bekannt macht. In Wahrheit nämlich befinden wir uns während dieser Erzählung bereits auf dem Flughafen Heathrow, wo ein Streik die Reisenden festhält. Wo wir also auch Mrs. Burton näher kennen lernen, die, weinend in sich zusammengesunken, auf einem der fest verschraubten Plastiksessel sitzt: eine Italienerin, die drei europäische Sprachen beherrscht, sich aber auch nach dreißig Jahren Ehe mit Mr. Burton dem Englischen standhaft verweigert. Eine schrill gekleidete Person mit grellem Lippenstift, in rotem Mantel und grünem Hut, auf dem eine Feder wippt. Eine notorische Verführerin jenseits der fünfzig, durchaus in der Lage, den Beischlaf mit ihrem Ehemann jählings zu unterbrechen, um sich einem jungen Zeugen Jehovas – testimonio di Geova – zuzuwenden, der an der Tür ihrer römischen Villa geläutet hat, um sie über den bevorstehenden Weltuntergang zu unterrichten. Mara Burton, der Chris Burton nichts davon zu sagen wagte, dass ihr schizophrener Sohn seinen Tod mittels eines Schraubenziehers herbeigeführt hat. Mrs. Burton, eine charmante Furie an der Grenze zur Lächerlichkeit, nun stumm weinend im Plastiksitz der Flughafenwartehalle.

Was Tim Parks’ Erzählen so außergewöhnlich macht, ist nicht nur die präzise Konstruktion der Details, die einem in ihrer ganzen ironischen Raffinesse erst viel später aufgeht. Von Kapitel zu Kapitel schließt er mehr Einzelheiten über diese äußerlich so strahlende multinationale Familie auf, in der unausweichlich einer zum Unglück des anderen wird. Faszinierend daran aber ist letztlich die Erzählweise selbst: ein Gedankenkarussell in Mr. Burtons Kopf, das in rasanten Drehungen, vor und zurück, eine Schlüsselinformation nach der anderen heranholt und dabei eine Kraft entwickelt, die alle Details am Ende wie zwangsläufig zur Katastrophe komprimiert – schicksalhaft eben.

Tim Parks’ Kunststück besteht allerdings nicht nur im fulminanten Tempo der Assoziationen und scheinbaren Gedankensprünge – der gute alte stream of consciousness, hier wird er auf die Geschwindigkeit des 21. Jahrhunderts hochgejagt. Das eigentliche Kunststück liegt darin, dass Parks zwar einerseits das ödipale Grauen dieser Familie mit der ukrainischen Adoptivtochter, mit dem wider alle medizinischen Vorhersagen geborenen Mutter-Sohn Marco sowie den LiebhaberInnen von Vater und Mutter absolut bezwingend erzählt – dabei aber zur Unentrinnbarkeit dieses „Schicksals“ fast unmerklich auf Distanz geht, je länger, desto mehr. So dass man den Gewissheiten des Mr. Burton immer weniger traut und sich am Ende wünscht, dieselbe Geschichte noch einmal aus der Perspektive der anderen zu hören. Anders gesagt: Man beginnt zu verstehen, dass Marcos Schizophrenie in der Tat und im Wortsinne homemade ist – eine Familien-Krankheit und damit also gerade das Gegenteil von „Schicksal“.

Und natürlich auch wieder nicht. Denn sosehr man begreift, wie alle hier einander ganz bewusst antun, womit sie sich selbst und die anderen zum Wahnsinn treiben, so genau sieht man auch, dass sie diesem System trotzdem nicht entkommen können: Sie brauchen einander genau so, wie sie sind, und sie machen einander zu dem, was sie brauchen. Tim Parks ist souverän genug, diese Erkenntnis konsequent zu Ende zu erzählen, obwohl's die Leser wohl lieber anders hätten: Bitte doch mal einen Fortschritt in diesem Labyrinth der Verzweiflungen, ach, nur einmal einen befreienden Schritt da heraus! Und wissen doch, dass es, schrecklicherweise, gar nicht anders sein kann.

Wie in einer Gothic Novel beleuchtet am Schluss spärlicher Kerzenschein die Treppenstufen und das eheliche Schlafzimmer in Mara Burtons römischer Adelsvilla. Der Strom ist abgeschaltet, das Elternpaar, dessen Trennung von Anfang an unausweichlich schien, liegt reglos auf dem Ehebett: Eben haben sie sich gegenseitig ihre Liebe gestanden. Und man begreift: Die werden sich niemals trennen, nicht einmal aus dem verfluchten „Geisterhaus“ ausziehen werden sie. Die Kriminalgeschichte, die ihre Beziehung ist, in der einer dem anderen in Liebe nach dem Eigenleben trachtet, kann tatsächlich nur durch den Tod enden. Und für die Sekunde, in der man das Buch zuklappt, sieht man da plötzlich auch sich selbst als nicht minder einsamen Trabanten im Ego-Universum trudeln. Und denkt: Ein Preis fürs furioseste erste Romankapitel? Warum so bescheiden?

Dann lieber gleich einen für das gesamte „Schicksal“: für den spannendsten, unterhaltsamsten und gnadenlosesten eye-opener in Familienangelegenheiten seit langem. Und der Übersetzerin Ulrike Becker, die all das in ein vibrierend ironisches Deutsch gebracht hat, bitte auch einen!

Tim Parks: „Schicksal“. Aus demEnglischen von Ulrike Becker.Verlag Antje Kunstmann, München2001, 282 Seiten, 39,80 DM

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