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Peeping Tom revisited

Bitte erst nach der Werbung springen: In dem Roman „Der Kameramörder“ erzählt der SchriftstellerThomas Glavinic von dem vergeblichen Versuch, die Kontrolle über den Bildausschnitt zu behalten

von KOLJA MENSING

Snuff movie, von engl. „to snuff out“, umgangsprachlich für „sterben“, bezeichnet einen Film, in dem Menschen vor laufender Kamera getötet werden. Gerüchten zufolge sind solche Filmaufnahmen auf dem Schwarzmarkt erhältlich, tatsächlich gibt es dafür keine Beweise. Snuff movies gehören in den Bereich der so genannten urbanen Legenden.

Michael Powell zeigte 1960 in seinem Film „Peeping Tom“ einen Serienmörder, der seine Opfer vor laufender Kamera quält und umbringt. Mitte der Siebzigerjahre setzte Alan Shackleton das Gerücht in Umlauf, die Schauspielerin in dem von ihm produzierten Film „Snuff“ sei bei den Dreharbeiten tatsächlich umgebracht worden, was das Publikum auch bereitwillig glaubte. Der Film war sehr erfolgreich. Die Beschäftigung mit vermeintlichen Snuff-Movies wurde eine Art Modeerscheinung, und vor zwei Jahren ließ Joel Schumacher noch einmal in seinem Thriller „8MM“ Nicolas Cage als Privatdetektiv nach Snuff-Produzenten fahnden.

Ansonsten erfreut sich das Thema in diesen Tagen vor allem im Internet großer Beliebtheit. Dort wird entsprechendes Bildmaterial getauscht und in längeren Diskussionen ausführlich auf seine Echtheit hin überprüft. So wird die metaphysische Frage nach der Wirklichkeit des Todes heute in Diskussionsforen verhandelt beziehungsweise von Fernsehsendern aufbereitet: „Dies ist kein Sensationsvideo, es ist der hilflose Versuch zur Aufarbeitung einer Tragödie“, steht unter den Videobildern, die in Thomas Glavinic’ Roman „Der Kameramörder“ am Ostersamstag kurz vor Mitternacht im Fernsehen zu sehen sind. Ein Mann hat in der Steiermark zwei Kinder zum Selbstmord gezwungen und dabei gefilmt. Der Mörder ist flüchtig, das Video allerdings wurde gefunden und ist in die Hände eines Privatsenders gelangt, der sich, seiner „Verantwortung vollauf bewusst“, für die Ausstrahlung entscheidet.

Nach der zweiten Tötungsszene stellt Heinrich den Fernseher aus und überlegt, wie „abartig und krank“ jene Menschen sind, die Snuff-Videos konsumieren. Draußen wird es fast schon wieder hell, doch keiner der vier jungen Leute kann schlafen. Dabei hätte es ein geruhsames Wochenende werden können. Der Erzähler und seine Lebensgefährtin haben Heinrich und Eva, ein befreundetes Paar, in deren Bauernhaus in der westlichen Steiermark besucht. Doch als sie von ihrem ersten Spaziergang nach Hause gekommen, erfahren sie in den Nachrichten von dem grausamen Verbrechen ganz in ihrer Nähe. Reporter reisen an, Sondersendungen werden angesetzt und die vier jungen Leute lassen den Fernseher angeschaltet. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich bei dem „Kameramörder“ um einen so genannten medienkritischen Roman handelt.

„Ich wurde gebeten, alles aufzuschreiben“, lautet der erste Satz. Es ist der Anfang eines Berichts, den der Erzähler in umständlichen Sätzen verfasst hat. Man merkt, er gibt sich Mühe, die Ereignisse zwischen Karfreitag und Ostersonnstag lückenlos aufzuschreiben. Selbst nebensächliche Details wie die Etikettierung von Lebensmitteln werden penibel notiert: „Butter aus biologischem Anbau (Aufdruck)“. So wird auch das eigentliche Verbrechen auf fast zwanzig Seiten des Romans peinlich genau anhand der im Fernsehen gezeigten Videoaufnahmen beschrieben. Der Kameramörder, wie die Journalisten den Täter getauft haben, zwingt die beiden Kinder unter Androhung aller möglichen Grausamkeiten, sich von einem hohen Baum zu stürzen. Schön ist das nicht, aber man hat ja schon viel gesehen. Für den Leser ist die Schilderung des Verbrechens wohl weniger erschreckend als die Vertrautheit mit den Mitteln der medialen Inszenierung: der Erklärung der Programmdirektion, den Untertiteln zu den authentisch verwackelten Videoaufnahmen und natürlich den obligaten Werbeunterbrechungen.

Auch Heinrich, Eva, Sonja und der Erzähler haben schon viel gesehen. Die aufgeklärten jungen Leute, die das Leben auf dem Land der Großstadt vorziehen, wissen nicht nur über die Vorteile von Nahrungsmitteln aus kontrolliertem Anbau Bescheid, sondern kennen sich auch mit den Gesetzen der Mediengesellschaft und Strategien „der im Quotenkampf befindlichen Fernsehsender“ bestens aus. In unangenehmen Momenten ziehen sie sich einfach auf die nächste Reflexionsebene zurück. Sie diskutieren, „ob man von in unmittelbarer oder relativer Nähe geschehenen Unglückfällen stärker betroffen sei als von den Dingen, die weit entfernt geschehen“, und Heinrich stellt der besseren Verständlichkeit wegen „weinende Jugoslawen“ anonymen Erdbebenopfern gegenüber.

So versucht man, in einer Welt, die voller Kameras hängt, die Kontrolle über den eigenen Bildausschnitt zu behalten. Dass die vier jungen Leute allerdings auch selbst keine kritischen Beobachter sind, sondern ebenfalls ein Teil des Spiels, merken sie erst ganz zuletzt und darum um so unvermittelter: als sie erst in einer Luftaufnahme ihr eigenes Haus im Fernsehen sehen und, wie in einem Anklang an das Ende von Michael Powells Film „Peeping Tom“, sich selbst auf dem Bildschirm wiederfinden. Dazu fällt ihnen nichts mehr ein, und so wird aus dem medienkritischen Roman zuletzt ein menschenkritischer Roman. Die äußerste Form von Reality-TV ist eben die Realität selbst.

Thomas Glavinic: „Der Kameramörder“. Volk und Welt, Berlin 2001,156 Seiten, 32 DM

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