Teller mit Fischen auf den Köpfen

■ Mit surrealistischen Zeichen auf den verschlungenen Pfaden von Wahrnehmung und Erinnerung: Jo Fabians Choreographie „The Dark Side of Time“ auf Kampnagel

Von kopflosen Reitern ist hier die Rede, die auf enthaupteten Giraffen durchs Land ziehen. Von Rittern und Königinnen. Von kleinen Brüdern, die in Bettdecken heulen, von Schwestern, die nichts wissen wollen von den Dingen, die sie einmal gesagt haben. „Vergiss es, Liebs-ter!“, ist ein Satz, den man sich merken sollte, hört man die Stimme des Regisseurs schmunzelnd aus dem Off.

Im grünblau leuchtenden Spalt der hinteren Bühnenwand sitzt so ein Kopfloser, hält eine lange Stange wie ein Fährmann in der Hand. Hinter Glas liegt eine Videowand, auf der Wasser wogt und wo Fische gleiten. Es sind die Bilder, die in der Kunst des Berliner Regisseurs und Choreografen Jo Fabian sprechen, das Licht, das die Illusion erzeugt. Drei Frauen ganz in Weiß verschrauben Arme und Hände in zeichenhaften Gesten. Eine trippelt auf Spitzenschuhen – mehr vager Kindheitstraum als überzeugende Darbietung.

The Dark Side of Time, das Fabian aus den von zwölf Theatern und Tanzproduzenten zum „Deutschen Produzentenpreis für Choreographie“ zusammengetragenen 250.000 Mark realisiert hat, wandelt zurzeit auf Kampnagel auf den verschlungenen Pfaden von Wahrnehmung, Wahrheit und Erinnerung. Und wenn sich der Vorhang zum zweiten Bild öffnet, ist der kunstgewerbliche Schein des ersten Teils zum Glück schnell vergessen.

Schweigen und Reglosigkeit beherrschen den „historischen Raum“. Nur der Stier im Film darf nicht sterben. Immer wieder erhebt er sich gegen den tödlichen Stoß. Zwei Herren mit schwarzen Flügeln am schwebenden Tisch halten ihre Gläser hoch. Die Frauen haben die Gewehre sinken lassen. Es ist ein Blick in unendliche Ferne, den Fabian mit diesem blutrot getränkten Tableau zu öffnen vermag. Eine Sicht auf die Welt, die er im dritten Bild wieder ganz dicht heran zoomt. Da wuseln Frauen und Männer umeinander, unsicher, wie sie sich nähern sollen. Teller mit Fischen und Büchern drauf zieren die Häupter der Frauen. Die Männer tragen schwarze Melonen. Allgegenwärtig sind die Zeichen der surrealistischen Kunst. Und durch ein Fenster schaut der Kopf einer Giraffe auf die Akteure herab, die mittlerweile Fabians Bewegungsalphabet Alphasystem in einen individuellen Tanz verwandeln: die Männer im Liegen, wie Fische, auf dem Trockenen zappelnd.

Irmela Kästner

Sonnabend, 20 Uhr, Kampnagel k6