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In den Schluchten des Balkan

Wieder einmal versteht der Westen nicht, worum es geht: Die Ursache des Krieges ist in Makedonien nicht der ethnische Konflikt, sondern die wirtschaftliche und soziale Krise

Statt eine Reform von Wirtschaft und Staat zu betreiben, beließ der Westen es beim Krisenmanagement

Die Albaner in Makedonien fühlen sich von den slawischen Makedoniern unterdrückt. Und das schon lange. Nun haben sie sich bewaffnet und greifen Polizisten, Soldaten und andere Repräsentanten des makedonischen Staates an. So oder so ähnlich erklären dieser Tage Journalisten, Fachleute und Politiker uns den neusten Konflikt auf dem Balkan. Und wir glauben ihnen.

Übersetzen wir das Szenario mal auf deutsche Verhältnisse: In Baden-Württemberg fühlt sich der badische Teil der Bevölkerung von den Württembergern unterdrückt. Nach langem, stummem Leiden nehmen irgendwann die ersten Badener die Waffe in die Hand . . . Nein. So würde hierzulande niemand berichten – und sei es nur, weil jeder Zuhörer sofort fragen würde, worin denn die Unterdrückung der Badener bestehe. Dann redeten wir über Bevölkerungsgruppen, über Regionen, Schichten, Klassen, den Länderfinanzausgleich – aber sicher nicht über die Wünsche irgendwelcher abstammungsmäßig verbundener gesellschaftlicher Konglomerate wie Völker oder Nationen.

Auf dem Balkan hingegen werden uns Nationen als einzige Akteure dargestellt – und kaum einen ausländischen Beobachter stört das. Warum auch? Schließlich ist das makedonische Szenario uns ja nur zu gut bekannt: Als die Slowenen 1991 die jugoslawische Föderation verließen, fühlten sie sich von den Serben unterdrückt. So verhielt es sich auch bei den Kroaten im gleichen Jahr, in Bosnien-Herzegowina (1992–95) und im Kosovo (1989–99). Auch die Argumentation der Gegenseite folgte dem ethnonationalen Erklärungsmuster. In allen postjugoslawischen Kriegen begründeten serbische Politiker ihren Kampf mit der Unterdrückung ihres Volkes durch andere.

Das ist natürlich alles Propaganda. Tatsächlich sind auch auf dem Balkan nicht irgendwelche ethnischen Animositäten Ursache für Konflikte, sondern wirtschaftliche und soziale Krisen. Seit zwanzig Jahren nimmt die Armut im exjugoslawischen Raum stetig zu. Die Infrastruktur der Region ist nach vier Kriegen weitgehend zerstört. Nur der Nationalismus hält noch zusammen, was sonst noch weiter auseinander fiele. Das ist der Grund, dass es keinen Frieden gibt.

Bekanntermaßen war Nationalismus im alten Jugoslawien kein Thema. Der Staat Titos war eine Art sozialdemokratische Diktatur: Die herrschende Klasse – die Funktionäre des „Bunds der Kommunisten“, die alle wichtigen Bereiche der Gesellschaft kontrollierten – garantierte den BürgerInnen soziale Sicherheit und einen im Vergleich zu den Nachbarländern hohen Lebensstandard. Im Gegenzug ließen die JugoslawInnen die Kommunisten in Ruhe regieren. Solange sie selbst gut lebten, muckte die überwältigende Mehrheit der Menschen nicht auf – auch dann nicht, wenn das Regime Panzer gegen Opposition einsetzte oder politische Kritiker pauschal in Gefängnisse steckte.

Dieser unausgesprochene Gesellschaftsvertrag funktionierte so lange wie der jugoslawische Sozialstaat. Erst als der posttitoistischen Bürokratenklasse in den Achtzigerjahren das Geld ausging, begann die Konjunktur des Nationalen. Plötzlich schienen alle Anstrengungen umsonst: Die ungeheuren Opfer während der brutalen Industrialisierung eines Landes, in dem 1945 noch 78 Prozent Analphabetismus geherrscht hatten. Die politischen Säuberungen in der „stalinistischen“ Phase des Titoismus bis 1964. Die ungeheuren Bevölkerungsverschiebungen infolge einer sozialistischen Industrieansiedlungspolitik, die auf die Bedürfnisse von Menschen wenig, auf die der Umwelt keine Rücksicht genommen hatte – Makulatur. Was Wunder, dass die nationalen Töne, die die Politiker nun allerorts anschlugen, auf fruchtbaren Boden fielen.

Den Anfang machten 1986 die Serben, genauer die Belgrader „Akademie der Wissenschaften und Künste“ (Sanu) mit ihrem berühmten „Memorandum zur Lage der serbischen Nation in Jugoslawien“. In dem Papier wird der Untergang des serbischen Volkes vorausgesagt – es sei denn, die Republik Serbien würde mehr Rechte im gemeinsamen Staat erhalten. Wohlgemerkt: Es ging keineswegs um mehr Rechte für den einzelnen, individuellen Bürger serbischer Nationalität – so etwas hätten die nach wie vor herrschenden Kommunisten nie zugelassen. Vielmehr beziehen sich die Sanu-Forderungen immer auf das nationale Kollektiv. Oder konkret: Auf dessen Vertreter, den jeweiligen Teil des Establishments, der sich seinen Teil am Kuchen sichern will.

Den anderen Teilen der politischen Klasse Jugoslawiens blieb dieser Hintergrund natürlich nicht verborgen. Sie reagierten auf die Forderung aus Belgrad – mit eigenen nationalen Programmen. Die durch die Krise verunsicherten Bevölkerungen nahmen die Parolen auf. Aus einem Verteilungskampf, den Teile der kommunistischen Nomenklatura Jugoslawiens um Posten, Pfründen und andere Machtmittel geführt hatten, war eine Auseinandersetzung zwischen jugoslawischen BürgerInnen geworden. Nur in Makedonien schien das bis vor kurzem anders zu laufen.

Ausgerechnet in diesem nach Kosovo ärmsten Teil des zerfallenen Landes gelang es der ersten postjugoslawischen Führungsgeneration, ihren 2-Millionen-Staat unbeschadet durch ein Jahrzehnt der Kriege zu lenken. Der nationale Spagat zwischen slawischen Makedoniern und den anderen Nationalitäten – allen voran den Albanern, die mindestens ein Viertel der Bevölkerung stellen – war der leichtere Teil dieser Übung. Schwerer wiegen bis heute die Folgen der Wirtschaftsblockade durch den EU-Mitgliedstaat Griechenland und der Zusammenbruch des jugoslawischen Marktes.

Als der posttitoistischen Bürokratenklasse das Geld ausging, begann die Konjunktur des Nationalen

Die internationale Gemeinschaft hatte zehn Jahre Zeit, den Makedoniern in dieser schweren Lage zu assistieren. Sicher, es wurde geholfen – aber die Hilfe war zu gering oder versickerte in der balkanischen Bürokratie. Oder beides? Eine tatsächliche Reform von Wirtschaft und Staat jedenfalls wurde nicht mal ansatzweise in Angriff genommen. Stattdessen beließ man es bei Krisenmanagement und gelegentlichen Finanzspritzen. Derweil haben Medien und politische Beobachter immer wieder lobend hervorgehoben, wie gut sich Makedonier und Albaner bei der Aufteilung des Staatsapparates geeinigt hätten. Tatsächlich sind albanische Parteien an allen Regierungen seit der Unabhängigkeit beteiligt gewesen. Nur: Das hat mit der konkreten Lage der albanischen Menschen nichts zu tun.

In Makedonien ist es in den vergangenen Jahre zu einem sozialen Zusammenbruch gekommen – hinter den nationalen politischen Kulissen. Die internationale Gemeinschaft – oder sagen wir es ehrlich: der reiche, nordwestliche Teil der Welt – hätte ihn wahrscheinlich verhindern können. Stattdessen wurde wieder nur der nationalen Interpretation Gehör geschenkt. Ein Fehler, wie sich nun erweist.

RÜDIGER ROSSIG

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