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Lässige Intellektualität

„Verrückt nach Kafka“ – so heißen die Erinnerungen des amerikanischen Kritikers Anatole Broyard. Gleichzeitig erscheinen erste Erzählungen seiner Tochter Bliss Broyard: „Mein Vater, tanzend“

von KATHARINA BORN

„Die Mieten waren niedrig, die Restaurants billig, und mir schien, das Glück selbst war billig zu haben“, schreibt Anatole Broyard über die Nachkriegszeit im New Yorker Greenwich Village. Gerade aus dem Krieg zurückgekehrt, erobert sich der junge Mann aus Brooklyn das Szeneviertel mit einem Traum: „Einen Buchladen aufzumachen ist eine klassische romantische Vorstellung, wie zur See zu fahren oder um die Welt zu segeln.“ „Verrückt nach Kafka – Erinnerungen an Greenwich Village“ ist die unvollendete Liebeserklärung des 1990 verstorbenen Literaturkritikers der New York Times, Autors und Essayisten Anatole Broyard an diese Zeit der Bücher und übersteigerten Intellektualität, an die abstrakte Kunst und eine erste sexuelle Befreiung. „Es war, als hätten wir nicht gewusst, wo Bücher anfangen und wo sie enden“, schreibt er. „Wären die Bücher nicht gewesen, wir wären dem Sex völlig ausgeliefert gewesen.“

Doch Broyards Traum von einem Buchladen als Kirche der Literatur scheitert an der Realität. Er hatte nicht erwartet, seinen Kunden eine Art Beichtvater sein zu müssen. „Mit ihren gewöhnlichen, alltäglichen Geschichten nahmen manche dieser Schwätzer die Richtung vorweg, die die amerikanische Literatur schließlich auch einschlagen sollte – weg vom Heroischen, Überlebensgroßen, hin zum Gewöhnlichen, zur Miniatur.“

Gleichzeitig mit den Erinnerungen dieses für die Gender-Debatte neu zu entdeckenden, „anderen“ amerikanischen Intellektuellen erscheint in Deutschland das Debüt seiner Tochter. Mit „Mein Vater, tanzend“ setzt sich Bliss Broyard in acht dem Andenken ihres Vaters Anatole gewidmeten Erzählungen mit dem Verhältnis von Töchtern zu ihrem berühmten Vater auseinander. Vorwurfsvoll sieht eine der Protagonistinnen den bewunderten Vater wortlos sterben. Eine andere erwischt ihn beim Fremdgehen und bleibt fassungslos gegenüber dem unbeirrbaren Wunsch der Eltern, die Fassade von Familienglück zu erhalten. Immer ist der Vater charmant, überragend klug und oft überlebensgroß. Dabei geht es nie um Heldentaten. Die in allen Geschichten zentrale Entwicklung der behütet aufgewachsenen Tochter, ihre ersten sexuellen Erfahrungen haben mit den Abenteuern von Bliss Broyards Vater auf den ersten Blick wenig gemein.

Anatole Broyard versucht sich an einer selbstironischen Mythologisierung der amerikanischen Avantgarde. Seine Schilderungen privater Erlebnisse mit den Größen der Zeit, William Gaddis, Anaïs Nin, Karen Horney, Erich Fromm, Meyer Schapiro – mit Künstlern, Beats, Hipstern, Kritikern, Poeten und deutsch-jüdischen Immigranten – geraten oft bösartig. Aber selbst das formuliert Broyard als Gründungsmythos der Village-Legende um: Es sei die „Bösartigkeit der modernen Kunst“, und „brillante Bosheit“ sei unfehlbar, sie mache „Objekte zu höheren Wesen“.

Verächtlich und doch voll selbststilisierender Bewunderung urteilt er auch über die Zeitgenossen, die sich der Tanzmusik in Spanish Harlem nicht ergeben wollen. Tanz steht dabei für die Authentizität einer Haltung, für Abstraktion und echte, lässige Intellektualität. „Der schlechte Tänzer ist ein Opfer des Rhythmus“, bringt Broyard seine verdeckte Poetik auf den Punkt.

„Erst klappte es nicht, denn ich folgte dem Rhythmus zu genau“, schreibt Bliss Broyard in der Titelgeschichte von „Mein Vater, tanzend“. Wie ihre Protagonistin übernimmt sie das Motiv des Vaters: „ ‚Du strengst dich zu sehr an, Kate‘, sagte er. Ich werd's dir schon noch zeigen, dachte ich, tanzte leichtfüßiger und ließ ihn zurück.“ Immer geht es ihr um Anerkennung – in der Schule, in der Familie, in der Beziehung. Der brillante Vater tanzt durch die Phantasie der Protagonistinnen.

Anerkennung, Dazugehören in Sexualität, Gesellschaft und Intellektualität scheint auch dem Vater zentral. „Ich wollte Literat sein wie sie. Ich hielt mich selbst für zu primitiv, um gemütlich über das Primitive zu plaudern“, kokettiert der bekannte Kritiker. Im Nachwort verrät die Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin Carrie Asman, was sonst sicherlich unentdeckt geblieben wäre: Broyard war trotz seiner hellen Hautfarbe ein Schwarzer. Obwohl es in Broyards Familie seit dem 18. Jahrhundert keine Weißen gab, wussten von dieser seltenen Laune der Natur bis kurz vor seinem Tod wohl nicht einmal seine Kinder. Im Wissen von seiner Herkunft lassen sich im Text auch darauf Hinweise finden – und sei es in der Abwesenheit von Vergangenheit: Bücher seien seine Familie gewesen, schreibt Broyard, „die einzige, die ich jetzt hatte und wollte. Mit ihnen konnte ich meine beschämend gewöhnliche Geschichte gegen einen bunten Strauß von Fiktionen eintauschen.“

Wie hätte nun der große Kritiker den Erstling seiner Tochter eingeschätzt? Könnte er die „Miniaturen des Gewöhnlichen“ ernst nehmen? „Früher hatten die Schriftsteller einfach mehr vom Leben“, schreibt Anatole Broyard, der wiederholt die Helden des Village mit denen der Pariser Emigration der Zwanzigerjahre kontrastiert. „Selbst so ein schwerfälliger Typ wie Hemingway konnte tanzen.“ Aber es scheint, Broyard könnte auch sein Verhältnis zur Tochter meinen, die in einer Zeit schreibt, in der Heldentum und Überlebensgröße nicht mehr gefragt sind. Bliss Broyard tanzt anders als ihr Vater, aber sie tanzt. Und sie bleibt kein Opfer des Rhythmus – oder der Erwartungen ihres Vaters.

Anatole Broyard: „Verrückt nach Kafka“. Aus dem Amerikanischen von Carrie Asman und Ulrich Enzensberger. Berlin Verlag, Berlin 2001, 190 Seiten, 36 DM. Bliss Broyard: „Mein Vater, tanzend“. Aus dem Amerikanischen von Monika Schmalz. Berlin Verlag, Berlin 2001, 256 Seiten, 38 DM

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