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Wagemutige, bestechende Topographien

■ Die Krimiautorin Barbara Vine liest heute aus ihrem neusten Roman „Heuschrecken“

Das Bild des lilafarbenen Himmels, der sich bedrohlich über das Kornfeld mit den Überleitungs-masten senkt, war dem Diogenes-Verlag offensichtlich zu dick aufgetragen. Für die deutschsprachige Ausgabe von Barbara Vines neustem Buch Heuschrecken wurde die Farbskala des Covers wieder ins Natürliche zurückübersetzt; und das nicht ganz zu Unrecht. Denn obwohl Barbara Vine als Krimiautorin verhandelt wird, fehlt Heuschrecken für dieses Genre ein aufzuklärendes Verbrechen. Zwar schleicht auch hier der Tod um die Ecke und beeinflusst die Handlung, aber seine Wirkung beschränkt sich auf die Protagonistin Clodagh Brown. Ziel dieses Romans ist die Aufklärung von Effekten.

Leider werden die Nachwirkungen von Ereignissen mit tödlichem Ausgang bisweilen allzu gradlinig übertragen. So stellt für Clodagh der Verlust ihres Jugendfreunds, der bei der gemeinsamen Besteigung eines Hochspannungsmastes durch 20.000 Ampere ums Leben kommt, einen Wendepunkt im Leben dar. Aber muss sie deshalb später erfolgreiche Elektrikerin sein? Und muss ihrem Verlangen nach Höhe und Überblick gleichzeitig eine Angst vor der Tiefe entgegengesetzt werden? Hier verfängt sich Vine in psychologischem Vulgärgestammel.

Eigenartigerweise stört das beim Lesen aber keineswegs. Schließlich werden dadurch bestimmte erzählerische Qualitäten des Buches hervorgebracht: Hätte Clodagh keine klaustrophobischen Anfälle, würde sie wahrscheinlich immerzu mit der U-Bahn durch das heimatliche London fahren. Dass sie sich anders durch die Stadt schlagen muss, eröffnet eine erzwungen langsame, beschauliche Topographie. Der Norden Londons, durch den Clodagh streift, gewinnt ein ganz eigenständiges Gesicht. Auch ihre Lust an Höhen erweist sich als handlungstreibend. Während andere Charaktere auf dem langweiligen Boden bleiben, findet sich bald auf den Dächern von London eine bunte Mischung aus seltsamen Aussteigern, mit denen Clodagh ihr Leben teilt. Zwar wirken diese Charaktere gleichfalls nur grob geschnitzt, aber durch ihre unkonventionellen Handlungen wird von Vine ein Lebensgefühl eingefangen, das durch seinen Wagemut besticht. Genau in diesen Beschreibungen bewahrheitet sich die schriftstellerische Größe von Vine. Die übrigens auch Ruth Rendell heißt. Doro Wiese

heute, 19 Uhr, Haus Deutscher Ring (Ludwig-Erhard-Str. 22, Eingang Neanderstr.)

Barbara Vine: Heuschrecken, 656 S., 46,90 DM

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