Die Leiche im Keller Italiens

In Italien sorgt eine Dokumentation über den 39 Jahre zurückliegenden mysteriösen Tod eines Ölbarons für Furore („Prozess gegen das Schweigen – Der Fall des Enrico Mattei“, 20.45 Uhr, Arte)

aus Rom MICHAEL BRAUN

„Er hatte mehr Macht als der höchste Mann im Staat. Die Parteien seines Landes benutzte er wie Taxis. Sie steuerten die Ziele an, die er ihnen nannte.“ Mit ein paar ebenso lapidaren wie gewichtigen Aussagen beginnt Bernhard Pfletschingers und Claus Bredenkrocks Dokumentarfilm über das gewaltsame Ende des „mächtigsten Italieners seit Augustus“: „Prozess gegen das Schweigen – Der Fall des Enrico Mattei“.

Aufgerollt wird der Tod einer der schillerndsten Figuren Nachkriegsitaliens: Am 27. Oktober 1962 starb der Direktor der staatlichen Petrochemieholding ENI zusammen mit dem Piloten und einem amerikanischen Time-Journalisten in den Trümmern seines Firmenjets. Sofort wurden seinerzeit „schlechtes Wetter“ und „menschliches Versagen des Piloten“ offiziell als Unglücksursachen genannt – und eben diese merkwürdige Eile der Behörden, den Fall Mattei zu den Akten zu legen, ist der Dreh- und Angelpunkt für die Dokumentarfilmer Pfletschinger und Bredenbrock.

Die Autoren werden zu Ermittlern in einem jener Politkrimis, die Italien seit 1962 immer wieder gesehen hat und deren Muster sich regelmäßig wiederholt. Ob der Anschlag auf die Landwirtschaftsbank in Mailand 1969, ob der Flugzeugabsturz von Ustica 1980 oder das Bombenattentat auf den Bahnhof Bologna im gleichen Jahr: Jedes Mal waren schnell Italiens Geheimdienste zur Stelle, um die Spuren zu verwischen.

So auch im Fall Mattei, der gewissermaßen die Generalprobe für die späteren Affären bildete: Wrackteile wurden nach dem Unglück gewaschen und desinfiziert, Flugzeuginstrumente per Säurebad als Beweisstücke unbrauchbar gemacht. Minutiös rekonstruiert der Film zudem mit Interviews und TV-Originalszenen der RAI, wie der einzige Zeuge – ein Bauer – plötzlich seine Version vom Absturz änderte und sich an eine Explosion des Flugzeugs noch in der Luft nicht mehr erinnern mochte, wie daraufhin die Tonspur eines alten TV-Interviews mit den entscheidenden Aussagen des Zeugen manipuliert wurde und wie zugleich die Archivaufzeichnung jenes Sendetags aus dem RAI-Archiv verschwand.

Doch wer hatte ein Interesse am Tod Matteis? Dokumentarfilme über Italiens blutige Mysterien verlieren sich an dieser Stelle schnell im Knäuel der möglichen Akteure im Hintergrund, erschlagen die Zuschauern mit dutzenden Namen und vielfältigen Indizien. Pfletschinger und Bredenbrock sind nicht in diese Falle getappt. Kapitel für Kapitel entwickeln sie erst Matteis Projekt von einem energiepolitisch unabhängigen Italien – hier kommt Mattei selbst ausführlich mit einem Interview von 1961 zu Wort –, um dann das Tatszenario aufzubereiten.

Die Täter bleiben im Dunkeln – doch wir erfahren, welche Feindschaften sich Mattei zugezogen hatte und welche Netzwerke gegen ihn mobilisierbar waren. Den USA war der von italienischer Größe träumende und deshalb von den Amerikanern als gefährlicher Neutralist eingeschätzte Mattei äußerst suspekt; und Mafiakronzeugen sagten 1993 aus, über die Cosa-Nostra-Connection von New York nach Palermo sei der Mordauftrag der US-Ölgesellschaften gegen Mattei erteilt worden.

Die Ölmultis verziehen Mattei nicht, dass die ENI Ländern wie Ägypten oder dem Iran 75 statt der ansonsten üblichen 50 Prozent Beteiligung am Fördergewinn einräumte. Die italienischen Geheimdienste besorgten nach dem Mord dann den Rest, verwischten Spuren, schüchterten Zeugen ein. Und die italienische Mafia ließ 1970 den Journalisten Mauro De Mauro verschwinden, als der im Auftrag des Regisseurs Francesco Rosi dem letzten Lebenstag nachrecherchierte, den Mattei ausgerechnet auf Sizilien verbracht hatte.

Doch auch Leute aus Matteis ENI waren wohl an der Vorbereitung des Attentats beteiligt. Ein kleiner Scoop gelingt Pfletschinger-Bredenbrock mit dem Nachweis, dass die ENI nicht nur einen, sondern zwei optisch völlig identische Morane-Saulnier-Jets besaß – eine Tatsache, die bis heute auch in Italien nicht bekannt war. Beide Jets wurden am Tattag vollgetankt; Mattei flog mit der einen Maschine nach Sizilien, während das Ziel der anderen nie ermittelt wurde. Jene zweite Maschine verkaufte die ENI wenig später klammheimlich in die USA. War sie genutzt worden, um erst das eine Flugzeug in Ruhe mit einem Sprengsatz zu präparieren und es dann gegen das andere auszutauschen?

Eine abschließende Antwort kann natürlich auch der Film nicht liefern. Aber er bringt ein wenig mehr Licht in eine Affäre, in der der geschickt getarnte Mord zum Mittel der Politik und, mit der Beseitigung Matteis, auch ein Stück Geschichte des Kalten Kriegs geschrieben wurde: Als Matteis Maschine im Oktober 1962 abstürzte, befand sich die Kubakrise auf dem Höhepunkt.