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Hände hoch! Der Castor kommt

Ein Polizeijeep rollt, Beamte springen aus dem Wagen. „Lauft, lauft!“, schreit der Zugführer. Demonstranten krallen sich aneinander. Sie rufen: „Keine Gewalt!“

aus dem Wendland NICK REIMER und JÜRGEN VOGES

Der Zug kam auf Umwegen: Über Kassel und dann durchs östliche Westfalen rollten die Castoren gestern in Richtung Wendland, wo sie am frühen Abend erwartet wurden. Dort und im Landkreis Lüneburg hatte die bevorstehende Ankunft des Zuges mit den sechs Behältern mit hochradioaktiven Abfällen aus der Wiederaufarbeitungsanlage La Hague den ganzen Tag für zahlreiche Blockadeaktionen gesorgt.

Eine davon begann in Wendisch Evern bei Lüneburg am frühen Nachmittag. Im Gelände nahe der Bahnstrecke Richtung Dannenberg belauern sich hunderte DemonstrantInnen und die Hundertschaften der Polizisten. Plötzlich setzt sich die Kolonne der AtomgegnerInnen in Bewegung. Strohsäcke werden getragen, die X-Zeichen leuchten.

Es dauert eine Weile, bis die Polizei reagiert. Die bereitstehende Hundertschaft versucht die Leute aufzuhalten. Maria-Charlotte, eine 15-jährige Schülerin aus Berlin, und die Studentin Isabell aus Dortmund kommen gut voran. Ein Polizeijeep rollt, grüne Minnas folgen. Beamte springen aus den Wagen. „Lauft, lauft!“, schreit der Zugführer. Die Polizisten keuchen. Der Vorsprung der Demonstranten ist beträchtlich. Auf einer Kuppe haben sich die Polizisten zu einer Kette aufgestellt. Schweiß perlt auf ihren Gesichtern. Die Montur wiegt schwer. Ersten Demonstranten gelingt es, die Kette zu durchbrechen. Die Polizisten sind zu wenige. Und zu ausgepumpt. Immer mehr Demonstranten durchbrechen die Kette. Dann sind auch Maria-Charlotte und Isabell durch.

Im folgenden Waldstück heißt es immer wieder „Aufschließen“ bei den rund 700 DemonstrantInnen. Es geht jetzt durch das Dorf Wendisch Evern. „Los, Leute!“, ruft aufmunternd eine Frau aus dem Fenster. „Was zu trinken wär mir jetzt lieber“, keucht Maria-Charlotte. Dann ist das offene Feld vor der Bahnlinie erreicht. Grünweiß ist die Böschung mit Polizeiautos verbaut. „Ich gebe zu: Jetzt habe ich Angst“, sagt Isabell. Langsam laufen sie und die andern trotzdem los. Und fangen plötzlich an zu rennen.

Ein Polizeijeep prescht vor. Während aus dem Lautsprecher „Ich erteile Ihnen hiermit einen Platzverweis“ kommt, haben die ersten Demonstranten die Böschung erreicht. Die Polizisten stürzen sich auf sie, werfen sie zu Boden. Auch Maria-Charlotte. Ihre Nebenleute rennen die Böschung hinunter.

„Haut ab!“, schreit ein Polizist den Demonstranten zu. „Schlagstock kurz halten“, weist die Lausprecherstimme an, „rechte Flanke sichern.“ Maria-Charlotte liegt atemlos auf dem Boden. „Das habt ihr fein hingekriegt“, ruft ihr jemand zu.

Das findet auch Isabell. Während von oben Hubschrauber- und Kampflärm dringt, setzten sich hier unten immer mehr auf die Schienen. „Keine Gewalt!“, rufen sie. Und natürlich ist Isabell ein bisschen stolz, der Staatsgewalt ein Schnippchen geschlagen zu haben.

Wenn sie sich da mal nicht täuscht. Aus dem Hintergrund kommt eine gut gerüstete Spezialeinheit und beginnt die Leute von den Schienen zu reißen. „Keine Gewalt!“, die Blockierer klammern sich aneinander. Es nützt nichts. Die Polizei geht jetzt entschlossen vor. Manchmal brutal. Sieben Verletzte beklagt die Initiative „X-tausendmal quer“ nach dem Schlagstockeinsatz. Fernseh-Teams lässt die Polizei bei Gelisräumungen nicht zu. Die Blockierer werden die Böschung entlanggezerrt. Manche versuchen gleich die nächste Schienenbesetzung. Andere werden weggebracht. Auch Maria-Charlotte.

Die Profis von Greenpeace waren schon am frühen Morgen in Aktion. Um sieben Uhr näherten sie sich in Schlauchbooten nahe Seerau bei Dannenberg der Eisenbahnbrücke über die Jeetzel. Fünfzehn Leute konnten die Brücke erklimmen und sich in und unter der stählernen Strebenkonstruktion festsetzen. Fünf hängten sich an Stahlseilen unter die Brücke, ein großes gelbes Transparent verlangt: „Stop Castor“. Spezialeinheiten des Bundesgrenzschutzes brauchen anschließend rund sieben Stunden, um die Brücke wieder befahrbar zu machen. Die Drahtseile waren über die Gleise geschlungen. Die BGS-Beamten seilten sich ebenfalls von der Brücke ab, sicherten dann die Aktivisten mit BGS-Seilen, bevor sie die Seile der Besetzer durchtrennten. Nach Angaben der Umweltschutzorganisation wurde dabei einem Aktivisten Pfefferspray ins Gesicht gesprüht.

Nördlich der Castor-Umladestation, in Breese in der Marsch, traf sich gestern morgen der Kreistag von Lüchow-Dannenberg zu einer Sondersitzung. Das Kreisparlament verurteilte in einer Resolution das von der Bezirksregierung Lüneburg verhängte Versammlungsverbot beiderseits der Castor-Transportstrecke. Die Gefahrenprognose, mit der die Bezirksregierung das Demoverbot begründet hatte, lasse „angesichts der langen Geschichte des gewaltfreien Widerstandes den Bezug zur Realität vermissen“, heißt es in einer Resolution, die mit den Stimmen der SPD, der Unabhängigen Wählergemeinschaft und der Abgeordneten der „Grünen Liste Wendland“ verabschiedet wurde. Ihr gehören die ausgetretenen ehemaligen Grünen-Abgeordneten an.

Auch die Landtagsfraktion der niedersächsischen Grünen tagte gestern bei Dannenberg, eine zunächst geplante öffentliche Fraktionssitzung samt Bürgerfragestunde direkt an der Transportstrecke wurde jedoch ebenfalls verboten. Die Bäuerliche Notgemeinschaft besetzte gestern Mittag vier Kreuzungen der in das Wendland führenden Bundesstraßen mit jeweils mehr als einem Dutzend Traktoren und wurde dabei von mehreren hundert Demonstranten unterstützt. Ziel der Aktion war es, den Fahrzeugen der 15.000 Polizisten im Castor-Einsatz die Bewegungsfreiheit zu nehmen. Bei der gestern Abend geplanten Demo in Dannenberg erwartete BI-Sprecher Ehmcke über 10.000 Teilnehmer, die dann anschließend in Richtung Umladestation ziehen wollten.

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