piwik no script img

Falsche Versprechen

Die Raketenabwehr soll keine Alternative zur atomaren Abschreckung sein.Im Gegenteil: Die USA wollen ihre militärische Interventionsfähigkeit erhalten

Die NMD-Enthusiasten versprechen das Ende der atomaren Abschreckung – wider besseres Wissen

Etwas mehr als zwei Monate ist in Washington eine neue Regierung im Amt – und gleich als Erstes hat sie den Bau eines Raketenabwehrsystems (NMD) zu einer ihrer militärpolitischen Prioritäten gemacht. In Berlin wird dies nur leise kritisiert; auch Bundeskanzler Gerhard Schröder wird heute bei seinem Antrittsbesuch bei Präsident Bush nur vorsichtige Töne anschlagen. Früher oder später dürfte die Bundesregierung dem amerikanischen Druck nachgeben. Denn auch die militärpolitische Elite in Deutschland drängt auf eine Beteiligung an dem Projekt.

Das Problem der rot-grünen Koalition: Sie argumentiert gegen das Rüstungsprojekt, indem sie das System der „atomaren Abschreckung“ verteidigt. Doch könnten die Berliner bald die letzten treuen Anhänger des ABM-Vertrages von 1972 sein: Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich ausgerechnet die Hauptkontrahenten, Moskau und Washington, auf eine Regelung einigen, wie die im ABM-Vertrag festgelegte Begrenzung bei den Abwehrsystemen so umgangen werden kann, dass sich NMD damit verbinden lässt. Spätestens dann würden die Gegner der Raketenabwehr in Regierung und Koalition ein verheerendes Bild abgeben: Sie würden wie rückständige Ideologen aussehen, die das „Gleichgewicht des Schreckens“ aufrechterhalten wollen.

Die NMD-Enthusiasten kann dies nur freuen. Denn sie präsentieren sich schon jetzt erfolgreich als Friedensengel, die mit Hilfe der Raketenabwehr endlich die „atomare Abschreckung“ überwinden wollen. Pardox: Die Rüstungsbefürworter gerieren sich als die wahren Abrüstungsfreunde, die mit Hilfe wundersamer Technik den Irrsinn der atomaren Vernichtungsdrohung beenden wollen. Ob bei der FAZ, im einflussreichen Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, bei der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung oder in der CDU-Zentrale: Die Militäranalysten der Republik geben sich plötzlich als verspätete Friedensbewegte. Ihr Argument: mit dem Aufbau von Defensivwaffen würden die atomaren Angriffswaffen schrittweise abgebaut.

Schöne neue Welt. Zu schön, um wahr zu sein – und nicht einmal originell. Schon US-Präsident Reagan versprach „Atomwaffen unschädlich und obsolet zu machen“, als er sein Raketenabwehrprogramm SDI ankündigte. Das ist 18 Jahre her. Tatsächlich dachte damals kein US-Militärplaner ernsthaft an ein Ende der atomaren Drohung.

Atomwaffen haben seitdem innerhalb der US-Militärstrategie keineswegs an Bedeutung verloren. Daran ändert auch die Absicht nichts, in den kommenden Jahren einige Tausend der militärisch unbrauchbaren Atomwaffen aus dem immer noch riesigen US-Arsenal zu zerstören. Denn zeitgleich entwickeln die USA neue Atomwaffen, vor allem mit geringerer Sprengkraft, die als so genannte mini nukes in Kriegen auch tatsächlich eingesetzt werden sollen.

Damit stehen die USA im Einklang mit der offiziellen Nato-Politik. Sowohl im „Strategischen Konzept“ des Bündnisses vom April 1999 als auch in dem geheimen Nato-Dokument MC 400/2 vom Mai 2000 findet sich die Option für den Ersteinsatz: Atomwaffen sollen demnach selbst dann eingesetzt werden, wenn zuvor kein atomarer Angriff gegen die Nato stattgefunden hat. Dafür sind auch auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik immer noch Atomwaffen gelagert. Verteidigungsminister Scharping erklärte erst im Februar, dass die Bundesregierung an der Stationierung festhalten wolle und Bundeswehr-Tornados weiterhin für den Einsatz der US-Atombomben bereitstehen.

Die Raketenabwehr-Enthusiasten, die das Ende der atomaren Abschreckung versprechen, wissen natürlich, dass eine Abkehr von der atomaren Rüstung weder in Washington noch in Brüssel zur Diskussion steht. Aber sie wissen auch, dass die Reagan’sche Verheißung populär ist.

Tatsächlich geht es bei dem Projekt um das genaue Gegenteil von Abrüstung und militärischer Selbstbeschränkung. Die Raketenabwehr soll es dem US- Militär ermöglichen, auch dann Interventionskriege zu führen, wenn die Gegner Atomwaffen besitzen. Seit dem Krieg gegen den Irak im Jahr 1991 ist den Militärplanern im Pentagon klar, dass es für mögliche Kontrahenten eine starken Anreiz gibt, sich die Bombe zu beschaffen.

Atomwaffen wären das wirksamste Drohpotenzial, um die USA von einer Intervention abzuhalten. Denn gegen die High-Tech-Rüstung des US-Militärs hat keine konventionell ausgerüstete Armee eine Chance. Wenn aber ein Atomwaffenangriff auf einen US-Stützpunkt, das Bevölkerungszentrum eines alliierten Landes oder gar das Territorium der USA droht, dann würde Washington die politische Unterstützung für militärische Abenteuer am Golf oder auf dem Balkan wahrscheinlich verlieren.

Auch in Berlin ist das Problem selbstverständlich bekannt: Hätte während des Kosovo-Krieges auch nur die vage Befürchtung bestanden, dass eine deutsche Stadt von Belgrad aus mit Atomwaffen bedroht werden könnte – kein deutscher Bundeskanzler hätte den Luftangriffen auf Jugoslawien zugestimmt.

Deshalb sind die US-Pläne für eine Raketenabwehr nicht nur das etwas versponnene Produkt einiger konservativer Ideologen in Washington. Stattdessen sind sie Teil von langfristigen Planungen, die die uneingeschränkte Interventionsfähigkeit sichern sollen. Da die Vereinigten Staaten die schlagkräftigsten Eingreiftruppen der Welt haben, ist es nur konsequent, dass ausgerechnet in Washington die Pläne für Raketenabwehrsysteme am weitesten fortgeschritten sind.

Die USA entwickeln „Mini“-Atomwaffen, die in Kriegen auch tatsächlich eingesetzt werden sollen

Wird der Aufbau einer europäischen Interventionsstreitmacht durchgezogen, wie von den EU-Regierungen in Nizza kürzlich beschlossen, dann werden aber auch europäische Militärs Raketenabwehrsysteme verlangen – so unwirksam sie auch sein mögen. Entsprechende Vorplanungen und Projektstudien sind längst im Gange.

Die Bundesregierung muss sich bald entscheiden, ob sie sich am Aufbau eines Raketenabwehrsystems im großen Stil beteiligen oder ob sie die US-Pläne grundsätzlich kritisieren will. Sie wird wohl die erste Option wählen. Denn wer für Eingreiftruppen eintritt, der wird bald dem Beispiel der USA folgen und sich entschließen, für seine Streitkräfte und sein Territorium eine Abwehr gegen Atomwaffen und Raketen aufzubauen.

Mit einer Abkehr von der „atomaren Abschreckung“ haben die US-Pläne also nichts zu tun. Ganz im Gegenteil: Es ist der Zusammenhang zwischen Raketenabwehr und Interventionsstreitkräften, der NMD so brisant macht und die US-Regierung so unnachgiebig. Kritiker stoßen daher schnell an ihre Grenzen, wenn sie nicht bei diesem Zusammenhang ansetzen. Die Rüstungskontroll- und Entspannungspolitik während der Ost-West-Konfrontation setzte auf gegenseitigen Gewaltverzicht. Wenn Bemühungen zur Eindämmung von Atomwaffen Erfolg haben sollten, müssen sie auch heute mit einem Gewaltverzicht verbunden werden – und nicht mit einer Verbesserung der militärischen Interventionsfähigkeit. ERIC CHAUVISTRÉ

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen