: Wanderer, kommst du nach Sfakia . . .
Auf den Spuren kretischer Widerständigkeit: Byzantiner, Sarazenen, Venezianer, Osmanen und Deutsche haben versucht, die Menschen in der südwestkretischen Sfakia in den Würgegriff zu nehmen. Das Schwarz der kretischen Kleidung ist geschichtsträchtiges Symbol dieser Region
von GERD SCHUMANN
Wie die Natur, so die Kreatur. Als wir im Herzen kretischer Widerständigkeit ankamen, schlug es noch gleichmäßig, fast zu ruhig. Dann Vollmond. In der wilden Sfakia braucht es nur zehn Minuten, um auf Windstärke 10 zu kommen. Gut nur, auf die Alten gehört zu haben und nicht auf See zu sein oder in den Weißen Bergen, den „Levka Ori“, die sich 2.452 Meter hoch erheben, schneeweiß im Winter, kreidebleich im Sommer, um schließlich steil ins Libysche Meer zu fallen. Sie isolieren die Region geografisch wie eine unüberwindliche Barriere. Den Rest erledigen Wasser und Wetter.
Nun peitscht der heiße Sturm schon vier Tage und Nächte durch Land und Leute, färbt die Weite des Mittelmeers bis zum Horizont unwirtlich dunkelgrau und reißt die noch unreifen Oliven von den Bäumen, lässt spitze Dolche von Wellenkuppen drohen und in Höhlen untergekrochene Ziegen brüllen. Nein, regnen werde es nicht, im Gegenteil trockne der Boden aus, meint sorgenvoll Pavlos Votzakis, Postvorsteher von Chora Sfakion, der Stadt, die mit ihren 364 Seelen doch nur ein Dorf ist. Der 43-Jährige blättert in einem dicken, großformatigen Buch von 1956 – Texte und Noten kretischer Lieder von Hass und Liebe, Unterdrückung und Gegenwehr, seit Jahrhunderten mündlich tradiert, schließlich aufgeschrieben: ein Kulturschatz, die Alltagsgeschichte der vor Afrika, Asien und Europa hingestreckten fünftgrößten Mittelmeerinsel bewahrend.
„Sie hatten ihre Schiffe, die ihnen alles brachten; wie Beys und wie die Prinzen lebten sie in Sfakia“, singt Pavlos’ 14-jähriger Sohn Nikos mit hoher Stimme eine melancholische Melodie, die sekundenschnell verweht. Und sie bleibt trotzdem in Ohr und Bauch wie schon im 17. Jahrhundert zu Beginn der Türkenbesatzung, aus der sie stammt. Damals ließen es die geografischen Gegebenheiten nicht zu, dass die Sfakia unter osmanische Fremdherrschaft geriet, und die Sfakioten handelten sich reich über See; Berg und Steilküste gaben ihnen Deckung.
Heute ist die Gegend nach allen Seiten offen; ganz besonders donnerstags, wenn sich die Woche und so mancher Pauschalurlaub langsam ihrem Ende zuneigen. Dann legt die Fähre „Daskalojiannis“, bis über die Toppen vollgepackt mit Menschen, am Kai von Chora Sfakion an und lässt die Ladeluke herunter. Ungeduldig scharrt manch erschöpfter Wanderer und manch ebenso erschöpfte Wanderin mit den Markenturnschuhen oder Treckerstiefeln, um ja einen guten Platz zu ergattern in einem der 250 Meter weiter und einige Dutzend Treppenstufen über dem Mittelmeeresspiegel parkenden Neckermann-„the comfort way“- oder TUI-„Zeus-of-Crete“-Bussen: Mühsam war der steinige Weg durch die Samariaschlucht, Europas heute meistfrequentierten Trimmpfad. Die Frauen und Männer sind glücklich, die 14 Kilometer Marsch von der Omalos-Hochebene aus, wo sie die Bus-Armada morgens abgesetzt hatte, durch den Canyon geschafft zu haben – Sprinter in fünf, Schnecken in acht oder neun Stunden –, um nun endlich wieder in einen der Liegestühle am Pool eines Hotelmonsters transportiert zu werden, die den Hang an der Nordküste säumen. Endlich abschlaffen: ein Bierchen Marke „Mythos“ in der linken Hand, in der rechten die „Karelia“-Zigarette.
Das Schauspiel ist vorbei, doch der alte Andreas, Jahrgang 1915, hockt immer noch mit seinem Krummstab – und selbstverständlich vom Kopftuch bis zu den Schaftstiefeln ganz in Schwarz – auf einem knallgrünen Plastikschalenstuhl am Kiosk. Nach Andreas Braos’ Vorfahren Daskalojiannis, dem sagenumwobenen „Lehrer Johannes“, der eigentlich Ioannis Vlachos hieß, wurde die Fähre benannt. Sein Name bedeutet regionale Geschichte wie kein anderer hier. Ein Ort der Rebellion ist die Sfakia: Byzantiner, Sarazenen, Venezianer, Osmanen und Deutsche versuchten, die Menschen in den Würgegriff zu nehmen, und bekamen auf die Mützen, Fese, Stahlhelme. So mancher Okkupantenkopf wurde mit dem Säbel oder der Doppelaxt gespalten, die Rache war schrecklich: Der türkische Pascha ließ Daskalojiannis bei lebendigem Leibe die Haut abziehen; der Bruder des Aufrühres, zum Zusehen gezwungen, wurde wahnsinnig.
Überall auf Kreta wurde farbenfrohe Kleidung getragen, dochin der Sfakia beschränkte man sich auf Rot und Schwarz. Farben als Ausdruck der Verfasstheit, wie Eleni Tsenoglou bei einem Feldforschungsprojekt mit Frauen der Region herausfand: „Tod, Krieg und Blut, nichts anderes lernten die Menschen kennen.“ Schwarz als Einheitsfarbe der kretischen Kleidung setzte sich, so die Kuratorin des historischen Museums von Kreta in Heraklion, erst gegen Ende der Türkenherrschaft im 19. Jahrhundert durch, als die Aufständischen schworen, so lange Schwarz zu tragen, „bis wir frei sind“. Und Eleni Tsenoglou ergänzt: „Als sie frei waren, blieben sie bei dem Schwarz.“
Hinter und über Chora Sfakion, an einer nah am Abgrund in den Fels gebauten Teerstraße, steht ein Steinmännchen, das den Weg über den Berg nach Anopoli weist; ein schmaler, ansteigender Pfad zunächst, dann geht es, in festen Stiefeln und mit viel Wasser im Rucksack, über Stock und Stein und Geröll und stengeltreibende Meerzwiebelknollen. War es an diesem Ort damals, 1941 oder 42 oder auch später, als alles in Scherben lag? Marschierten die uniformierten blonden Deutschen, Ärmel aufgekrempelt, MP geschultert, „Was kostet die Welt“-Blick in braungebrannten Gesichtern, durch die Sfakia? Sie zerbombten die Sfakia gründlich, erzählt der alte Andreas, der – zurückgekehrt auf die Insel in Booten vom Festland, wo er in der griechischen Armee gegen die Nazi-Wehrmacht gekämpft hatte – direkt in die Berge zu den Partisanen ging. „Es war nur ein kleiner Schritt vom Ufer.“ Wenn sich Deutsche herumtrieben, hängten die Frauen und Kinder rote Tücher auf die Balkone – als Zeichen für die Freiheitskämpfer, die sich dann auf Attacken oder Hinterhalte vorbereiteten. Nein, die Herrenmenschen hielten sich nicht lange, und die Sfakia war eine von drei „befreiten Zonen“ Kretas.
Wir erreichen Anopoli. Der Sturm weicht zunächst einem lauen Lüftchen, das sich dann auch noch legt und uns nun der gnadenlosen Sonne überlässt. Mittags in der Taverne am Ortseingang bringt eine freundliche Frau, 30 oder 40 Jahre alt – schwer zu schätzen wegen der Zahnlücken –, Mokka, eiskalte Cola und Wasser gegen den Durst und pflückt einige Pfirsiche, spült sie und reicht sie uns. 600 Meter über dem Meer lebten im minoischen Anopoli um 1500 vor Christus bis zu 60.000 Menschen. Spuren von ihnen existieren kaum mehr. Ein Denkmal erinnert an Daskalojiannis, der von hier stammt.
Anopoli ade, und weiter per pedes, denn keine Straße führt hinunter in die antike Hafenstadt „Phoenix“, nur ein Trampelpfad im Geröll am Berg. Mitten in die Idylle aus weiß gekalkten Wänden und lila gestrichenen Holztüren von Loutro, wie Phoenix heute heißt, bricht das glänzende Fährschiff hinein, indem es direkt auf den Strand aufläuft – nachdem die Badenden verscheucht worden sind, versteht sich. Der nassforsche Dampfer öffnet seine Bugklappe wie ein riesiges Maul, das auch uns schluckt. Noch eine Stunde Seefahrt bis Agia Roumeli, wo in luftiger Höhe ein Kastro über dem Ort thront, eine mittlerweile verfallene Festung, die früher Anfang und Ende der Samariaschlucht verriegelte. Über Jahrhunderte verständigten sich die Rebellen mit nächtlichen Leuchtfeuern an den Kastros der Küstenlinie. Abends, wenn die Wandererwelle abgeebbt ist, werden hier die schönsten sfakianischen Feste gefeiert, und ein violettes Licht verwandelt Postkartenkitsch in Wirklichkeit.
An Sweetwaters Kiesstrand wartet niemand auf niemanden. Die Steinwüste ist gleichmütig wie das salzige, glasklare Meer, das den Fels schon immer geschmirgelt hat. Weit oberhalb von Sweetwater, an der Teerstraße, warnen als Teil zwei des Kontrastprogramms à la Sfakia durchlöcherte Straßenschilder vor Kurven oder Steinschlag, jedoch nicht vor menschlicher Gewalt.
„In jedem Haus gibt es Waffen“, sagt Georgios Likioiannakis, 33-jähriger Gastwirt in Chora Sfakion, „99,9, nein, 100 Prozent. Auch die Polizei weiß das.“ Die vor noch nicht allzu vielen Jahren hier und da übliche Blutrache werde nicht mehr praktiziert: „Jetzt reden sie miteinander.“ Allerdings stecken Familie und Ehre und Familienehre weiterhin als unsichtbarer Moralkodex in den kantigen Schädeln. Kretas Nationalschriftsteller Nikos Kazantzakis hat es in der Gestalt des „Kapitäns Michalis“ (deutscher Romantitel: „Freiheit oder Tod“) dargestellt: unangefochtenes Patriarchat, unerbittliche Härte gegen sich selbst und die Familie, gegen Feind wie gegen Freund, bittere Verbohrtheit, die keinen Kompromiss zwischen dem Einhalten überkommener Grundsätze und deren Bruch zulässt und also auch keine Entwicklung.
Kazantzakis Alexis Zorbas prägte das Bild vom schlitzohrigen Kreter. Fremde kommen nunmehr als Touristen, nicht als Unterdrücker, obwohl . . . – so mancher Besucher trägt sein Portmonee auf der Zunge und fällt damit in der Sfakia prompt auf den Bauch. „Wir katzbuckeln nicht vor Touristen, auch wenn sie uns Geld bringen, von wegen“, sagt Georgios. „Nein, wir respektieren dich, wenn du uns respektierst.“ Das habe schon mit der von Stolz und Selbstbewusstsein geprägten Mentalität zu tun: „Wir tun, was wir fühlen, und kümmern uns nicht um die Folgen.“
So mag denn auch zu erklären sein, dass Dynamit hier nicht nur zum Straßenbau, sondern immer noch zum Fischen benutzt wird. Das geschieht zwar nur heimlich und nur im Winter, trotzdem vernichten die gewaltigen Explosionen natürlich die Brut und lassen die Fischbestände schrumpfen.
Da verdient man die Drachme im Tourismus angenehmer, und nach der Saison, ab November bleibt nicht nur viel Freizeit, sondern auch das nötige Geld, um pausenlos Karten zu spielen, zu dritt: Andreas, Georgios und der Dorfarzt von der kleinen Krankenstation am Fuße von Chora Sfakions Kastro. Der Parkplatz für die Busse der Samaria-Wanderer ist verwaist. Nur der Sturm tobt wieder und hat innerhalb von zehn Minuten Windstärke 10 erreicht.
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