: Gescheiterte Versöhnung
aus Algier REINER WANDLER
„Als ich kam, erwartete mich ein Bild des Grauens. Alles war über und über mit Blut verschmiert“, erinnert sich Brahimi Belhouari, Direktor des Technischen Gymnasiums in Medea, einer Stadt im Atlasgebirge vor den Toren Algiers. Eine Gruppe bewaffneter Islamisten war am 16. Dezember, mitten im Fastenmonat Ramadan, gegen 21.30 Uhr in den Schlafsaal Nummer zwei des Internats am Stadtrand eingedrungen. Fünfzehn Schüler und ein Wachmann wurden ermordet, sieben weitere Personen zum Teil schwer verletzt. Ein Teil des Schulgeländes wurde vermint.
Der Überfall auf das Gymnasium bildete nach einer relativ ruhigen Phase von etwa zwei Jahren den Auftakt einer Welle grausamer Attentate, die bis heute nicht abreißt. Algeriens Präsident Bouteflika, der heute zu einem zweitägigen Besuch in der Bundesrepublik eintrifft, hatte nach seinem Amtsantritt versucht, eine Politik der nationalen Versöhnung einzuleiten. Sie sollte den Bürgerkrieg beenden, der seit 1992, als die Armee die Wahlen abbrach, um einen Sieg der Islamistischen Heilsfront (FIS) zu verhindern, immer brutaler geworden war. Auf 150.000 Tote werden seine Opfer geschätzt. Das wichtigste Element von Bouteflikas Politik war ein auf Mitte Januar 2000 befristetes Amnestieangebot.
Täglicher Terror in der Provinz
Zwar kehrten zu diesem Zeitpunkt 6.000 Kämpfer des bewaffneten Arms der FIS, der Islamischen Armee des Heils (AIS), ins zivile Leben zurück, und weitere 2.000 unterschiedlichster Untergrundgruppen ergaben sich im Rahmen des Gesetzes zur Zivilen Eintracht, das denen Straffreiheit gewährte, die kein Blut an ihren Händen haben, und dem Rest eine milde Behandlung versprach. Doch die Emire – Führer – der beiden aktivsten Untergrundorganisationen, der Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) und der Salafistischen Gruppe für Predigt und Kampf (GSPC), ließen sich darauf nicht ein. Sie haben ihre reduzierten Truppen wieder in Stellung gebracht. Jetzt ist die Hoffnung auf den versprochenen schnellen Frieden geschwunden. Bouteflika ist gescheitert.
Täglich bestimmen die Horrormeldungen aus der Provinz von Massakern mit zweistelligen Opferzahlen die Titelblätter der Zeitungen. Ob in der Kabylei im Osten des Landes, in Ain Defla und Chlef im Westen, oder seit ein paar Wochen auch wieder in Medea und Blida im Atlasgebirge unweit der Hauptstadt, die Terrorkommandos machen sich Nacht für Nacht auf den Weg. Sie überfallen entlegene Siedlungen und Ortsteile oder errichten ihre Straßenkontrollen. Mit Säbeln, Äxten und Schusswaffen verrichten sie ihr blutiges Handwerk.
Direktor Belhouari erinnert sich gut an den „Kondolenzbesuch“, den Präsident Bouteflika seiner Schule im Rahmen einer Reise nach Medea und Blida Ende Februar abstattete.“ Alle Schüler und Lehrer wurden mobilisiert, die Gebäude mit Fahnen und Spruchbändern geschmückt“, berichtet er. Doch was der Direktor hören musste, das schockte ihn. „Die Möglichkeit zu bereuen ist noch immer gegeben“, bot Bouteflika den bewaffneten Gruppen an, „Wer bereuen will, dem werden wir helfen.“ Vor einem Jahr hatte Bouteflika all denjenigen, die sich nicht in der vorgesehenen Frist ergeben wollten, eine „gnadenlose Verfolgung“ angekündigt. „Ich verstehe die Welt nicht mehr“, schüttelt Direktor Belhouari den Kopf.
Ein schwacher Präsident
„Eine Generalamnestie werden wir niemals akzeptieren“, zeigt sich auch Fatma Zohra Flici über die Worte Bouteflikas empört. Die Frau Mitte vierzig ist Vorsitzende der Nationalen Vereinigung der Familien der Opfer des Terrorismus (ANFVT), der eine Million Menschen angehören. Flici selbst hat 1993 ihren Mann bei einem Anschlag verloren. Sie unterstützte Bouteflika. Die Reden von der Aussöhnung weckten auch in ihr Hoffnungen. Doch als sie wenig später mit ansehen musste, wie Bouteflika die Angehörigen der AIS pauschal amnestierte, gingen sie und ihre Organisation wieder auf Distanz. „Der Präsident kann jetzt nicht einfach die Aussöhnung per Dekret veranlassen“, meint Zohra Flici. „Zwar sind auch wir damit einverstanden, die Seite des Konflikts umzublättern“, meint Flici, „aber wir können sie nicht aus dem Buch unserer Geschichte herausreißen.“
„Bouteflika ist ein schwacher Präsident. Er ist, wie alle anderen vor ihm auch, von der Armee abhängig“, sucht Ikhlef Bouaichi, Generalsekretär der größten legalen Oppositionspartei, der Front der Sozialistischen Kräfte (FFS), nach den Gründen für Bouteflikas Haltung. Und gerade im Militärapparat streiten sich seit Monaten die verschiedenen Generäle und ihre Clans über die Richtung, die die Politik nehmen soll. Deshalb beschränke sich der Präsident einmal mehr darauf, die Krise als ein reines Sicherheitsproblem zu behandeln.
„Doch wenn wir die politischen und sozialen Ursachen der Gewalt nicht angehen, bleibt Algerien eine Fabrik für Terroristen“, mahnt Bouaichi. Mangelnde Schulausbildung, hohe Arbeitslosigkeit, fehlender Wohnraum, große Teile der Jugend seien völlig an den Rand der Gesellschaft gedrängt, während die hohen Funktionäre des ehemaligen Einheitssystems im westlichen Luxus schwelgen. Die breite Mehrheit der Algerier fühlt sich fremd im eigenen Land.
„Wir brauchen eine breite Diskussion über die Ursachen der Krise. Nur so kann das Vertrauen der Bevölkerung in den Staat wieder hergestellt werden“, verlangt Bouaichi und mit ihm die restliche Opposition. An einer solchen Debatte müsste natürlich auch die verbotene FIS beteiligt sein. Doch deren beiden Führer Abassi Madani und Ali Belhadj sind noch immer nicht frei, und das obwohl die beiden mehrmals in Briefen an den Präsidenten angeboten haben, ihren Teil zur Befriedung des Landes beizutragen.
Allzu viele Hoffnungen macht sich Bouaichi nicht. Denn eine solche Debatte würde die Privilegien der allmächtigen Generäle und der hohen Funktionäre des ehemaligen Einparteiensystems gefährden.
Dazu hat Bouteflika – selbst wenn er wollte – nicht die Kraft. „Der Staat ist heute in den Händen von einigen wenigen“, resümiert der Oppositionspolitiker. „Solange das so bleibt, geht die Krise weiter.“
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