Aus Titos Villa in den Knast

Er wollte sich nicht lebend stellen. Doch nach 36 Stunden war Slobodan Milošević am Ende: Er ergab sich der Polizei

aus Belgrad ERICH RATHFELDER

Blaulichter, huschende Gestalten, Polizisten im Scheinwerferlicht, Steinewerfer und Parolenrufer, ein wenig abseits Gruppen von Neugierigen – das ist die Szenerie in der Nacht zum Sonntag vor der Dienstvilla des ehemaligen Präsidenten Serbiens und Jugoslawiens, Slobodan Milošević im Stadtteil Dedinje in Belgrad. Manche Aktivisten der Bürgerbewegung hatten schon seit Freitagabend auf den endgültigen Schlag der Polizei gewartet. Und einige der treuen Anhänger „Slobos“ ebenso lange. Doch ihr immer wieder gerufener Slogan, „Slobo ist Serbien“ wird, je länger die Nacht dauerte, schwächer.

Und auch der ehemals allmächtige Herrscher Jugoslawiens wird müde: Um halb fünf Uhr früh erklärt er nach langwierigen Verhandlungen seine Bereitschaft, sich dem Gericht zu stellen. Fahrzeuge fahren vor. Als die Beamten ihn abholen wollen, gellen trotz aller Absprachen Schüsse. Wie später berichtet wird, hat seine Tochter Mirjana geschossen. Verletzt wurde aber anscheinend niemand. Die rund 50 bewaffneten Anhänger, die sich in dem Haus aufhalten und in der Nacht zuvor noch einen Angriff der Sicherheitskräfte zurückgeschlagen haben, bleiben dagegen ruhig. Milošević steigt in eine Limousine und fährt ab. Er wird in das Zentralgefängnis von Belgrad gebracht.

Verstört nehmen seine Anhänger zur Kenntnis, dass die letzte Schlacht verloren, die Karriere ihres Idols endgültig beendet ist. Ein Sympathisant der Regierung dagegen bemerkt trocken: „Slobo hat nicht einmal die Kraft hat, Selbstmord zu begehen. Sein Abgang ist eine Halbheit, wie sein ganzes politisches Leben.“

Dramatischer hätten die Ereignisse in Belgrad nicht ablaufen können. Alle Vorurteile über den „Balkan“ und über die Person Milošević wurden bedient. Der erste Versuch der Polizei am Freitagabend, Milošević festzunehmen, war an der schlechten Organisation und dem Durcheinander gescheitert. Soldaten der Armee sollen dabei die Spezialeinheit der Polizei behindert haben. Dem folgte noch in der Nacht die Erklärung des gestürzten Präsidenten, „lebendig werde er nicht ins Gefängnis gehen“. Was nun?

Erst lange Diskussionen innerhalb der Regierung über die Frage, wie vorgegangen werden soll, brachte die Wende. Als Präsident Koštunica zusammen mit Premierminister Zoran Djindjić am Samstagabend eine kurze Erklärung abgab, in der er keinen Zweifel ließ, dass niemand über dem Gesetze steht, auch nicht Milošević, erst dann war vollkommen klar: Die demokratische Regierung wird vor Milošević und seinen Anhängern nicht in die Knie gehen, sie wird fest bleiben.

Was dann ausgehandelt wurde, liegt noch im Dunkeln. Gab es eine Vereinbarung, in der Milošević versichert wird, lediglich in Belgrad vor Gericht stehen zu müssen und nicht in Den Haag? Die Formulierungen der Regierungsmitglieder lassen dies offen. Das kleine Wörtchen „jetzt“ spricht dafür. „Jetzt wird er nicht an Den Haag ausgeliefert.“ Die Regierung hat aber zur Kenntnis genommen, dass Carla Del Ponte, Chefanklägerin in Den Haag, immer wieder bekräftigt hat, dass Milošević in Den Haag abgeurteilt werden muss.

Auf den Straßen der Innenstadt Belgrads herrschte gestern Gelassenheit. Manche zeigen sich demonstrativ abgeklärt. „Das Ganze interessiert mich nicht“, sagt Dragan F. Er sei jetzt 39 Jahre alt und müsse, obwohl Ingenieur, für seinen Lebensunterhalt als Imbissbudenverkäufer kämpfen. „Die Milošević-Jahre waren verlorene Jahre.“ Seine sechsjährige Tochter soll ein besseres Leben haben. Auch Petar J. interessiert sich nicht mehr für Politik. „Nur das, was ich verdiene, zählt.“ Beide sitzen in einem Café im Zentrum der Stadt und genießen den Sonntagmorgen. Petar war vor 10 Jahren in Kroatien als Offizier in der Armee dabei. „Wir haben doch damals nur die Serben verteidigt,“ sagen beide. Gut, es sei Zeit nachzudenken, vieles sei falsch gelaufen. „Wir glaubten damals wirklich, wir stünden auf der richtigen Seite, und jetzt bin ich mir da nicht mehr sicher, es gab zu viele Verbrechen,“ sagt Dragan. Petar hält dagegen daran fest, dass das Schauspiel, Milošević zu verhaften, „unwürdig“ sei. Nach Den Haag sollte er auf keinen Fall ausgeliefert werden. Die Sieger dürften nicht über die Verlierer urteilen, sagt er trotzig. „Und überhaupt: Die anderen haben auch Verbrechen begangen, warum so viel Aufhebens machen um ein Paar Muslime oder Albaner?“

Von überschäumendem Jubel, von einer Stimmung wie beim Sturz Milošević’ im Oktober ist nichts zu spüren. Viele möchten die Vergangenheit ruhen lassen, wie die Putzfrau im Hotel oder die Kioskverkäuferin am Terasje-Platz und „in die Zukunft sehen“. Und manche haben sogar Angst, als Mitläufer bestraft zu werden. Was werden jene tun, die in den Sondereinheiten der Armee und Polizei,in den Freischärlerverbänden gekämpft und an Verbrechen beteiligt waren? Solange „er“ noch da war, konnten sie sich persönlich sicher fühlen.

Arbeiter räumen die Straßen um das Anwesen der Miloševićs auf. Nach wie vor stehen Polizisten vor dem weitläufigen Park, in dem sich das Gebäude befindet. Die achtlos weggeworfenen Cola-dosen, das Papier und die Zigarettenstummel verschwinden im Bauch eines Müllfahrzeuges. Der Wohnsitz war einst vom kommunistischen Staatschef Tito erbaut. Und diente nach dessen Tode im Mai 1981 als Museum. Noch im Sommer 1991 wachte die Jugoslawische Volksarmee über Titos Grab. Serbische Nationalisten unter Führung von Vojislav Šešelj wollten das Areal stürmen und den Leichnam des von ihnen gehassten Kroaten Tito nach Kroatien schaffen. Dass Milošević nach seinem politischen Sturz noch in einer Tito-Villa in der Užička-Straße wohnen durfte, dass er sich hier in der Nähe ein neues Haus bauen lassen wollte, lässt darauf schließen, dass er sich dem alten Diktator verbunden fühlt, obwohl er mit seiner Politik das Jugoslawien Titos zerschlagen hat – so schwer das zu verstehen ist.