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: Vom randständigen Phänomen der Lyrik

Alles redet, schweigt und ruft

In der Lyrik wird Sprache erfahren „in ihrem Eigensein und Eigenwert, in der Aktivierung dessen, was in ihrer jeweiligen Mitteilungsfunktion nicht aufgeht. Sprache ist nicht wie ein Fensterglas, durch das man hindurchblickt, ein Gegenüber wahrnimmt, sondern wie ein Prisma, dessen Farbenspiel unsere Aufmerksamkeit fesselt.“ Dies Zitat aus „Das erneuerte Gedicht“, Essays und Vorträge des Germanisten Paul Hoffmann, macht im Bild des Prismas deutlich, dass Gedichte kaum Informationsfunktion haben, sondern Ausdrucksfunktion. Und genau das dürfte einer der Gründe dafür sein, dass in einer auf Informationsfunktionen versessenen Gesellschaft Lyrik zum randständigsten Phänomen innerhalb des sowieso randständigen Phänomens Literatur geworden ist.

Insofern ist ein Gedicht, „wo es keinen Krieg über den Gartenzaun führt oder am Größenwahn umkommt, jemanden erlösen zu müssen, eine exterritoriale sprachliche Situation, ein Niemandsort und damit universal. Das hat seinen besonderen Grund darin, daß es sich nicht aus Inhalten konstituiert, und daß es Informationen erzeugt, die mehr sind als die Summe seiner Wörter und Sätze.“ So definiert Kurt Drawert in seinen Essays „Rückseiten der Herrlichkeit“ das, was man als „poetischen Mehrwert“ bezeichnen könnte.

Gerade die Randständigkeit, die Existenz im Niemandsort, führt dazu, dass zeitgenössische Gedichte ihre Bedingtheit häufig hinterfragen und problematisieren, so zum Beispiel in Elisabeth Borchers’ „Alles redet, schweigt und ruft“, einer von Arnold Stadler besorgten Auswahl aus dem Gesamtwerk. Unter dem Titel „Repetition in der Literatur“ findet sich dort folgendes Gedicht: „Jugend zum Beispiel. / Die scharfen Empfindungen / die inszenierten Entblößungen / das überhöhte Tempo des Gefühls / die Starre / die Berechenbarkeit der Magie / Jedwede Äußerung der Sterne / der Sonne himmlisches Geblüt / das grünende Tal / und das ewig sich fortschreibende / immer zu kurz kommende Gedicht.“

Mit dem Gedichtband „Birthday Letters“ brach der britische Dichter Ted Hughes 35 Jahre nach dem Selbstmord seiner Frau Sylvia Plath sein Schweigen über diese problematische Ehe. Das Buch ist aber nicht nur Vergangenheitsbewältigung und poetische Rechtfertigung, nicht nur ein lyrisches Porträt der Sylvia Plath, sondern diese Gedichte handeln indirekt alle von den Entstehungsbedingungen der Literatur selbst, zum Beispiel, wenn Hughes sich an die Finger seiner Frau erinnert: „Gepflegte Boten deines Sachverstandes, / Die auf deiner Schreibmaschine umherhüpften, / Besessen von kindlichem Geist, koboldhaft, / Und die alles, was sie machten, tanzend oder spielerisch / Mit einem schwerelosen, verschwenderischen Ausdruck vollbrachten.“

In einer zweisprachigen Ausgabe sind jetzt Gedichte Paul Austers erschienen, die er schrieb, bevor er als Romancier bekannt wurde, und manche dieser Gedichte wirken wie Keimzellen seiner späteren, rätselhaften Romane, träumerische Skizzen: „Ich widme diese Worte den Dingen im Leben, die ich nicht verstehe, allen Dingen, die vor meinen Augen vergehen. Ich widme diese Worte der Unmöglichkeit, ein Wort zu finden, das dem Schweigen in meinem Innern gleich ist.“

Einen Kriminalroman aus lauter Gedichten hat die australische Lyrikerin Dorothy Porter mit „Die Affenmaske“ geschrieben. Das klingt ziemlich unmöglich – und funktioniert dennoch ganz wunderbar. Es geht um ein verschwundenes Mädchen und, wie könnte das bei Lyrik anders sein, ums Literaturmilieu. „Ist es eine Mauer / oder ein Graben / oder eine tiefe Wunde, / was wächst zwischen Geliebten? / ich hab zuviel Lyrik gelesen / vielleicht ist es ja viel simpler . . .“ KLAUS MODICK

Ted Hughes: „Birthday Letters“. Serie Piper, 206 Seiten, 16,90 DMPaul Auster: „Vom Verschwinden/Disappearances“. rowohlt paperback, 219 Seiten, 25 DMDorothy Porter: „Die Affenmaske“. btb, 221 Seiten, 16 DMElisabeth Borchers: „Alles redet, schweigt und ruft“. suhrkamp tb, 285 Seiten, 19,90 DMKurt Drawert: „Rückseiten der Herrlichkeit“. edition suhrkamp, 240 Seiten, 19,90 DMPaul Hoffmann: „Das erneuerte Gedicht“. edition suhrkamp, 186 Seiten, 19,90 DM