Etwas wie Langeweile an sich selbst

Längst überfällige Historisierung: In der Evangelischen Akademie in Tutzing wurde um „Das Erbe von 68“ gestritten. Dass das Deutungsmonopol über diesen Teil ihrer Geschichte weiter bei den 68ern bleibt, stellte sich hier nicht als deren Schuld heraus

von BRIGITTE WERNEBURG

Gerne hätte er sich in der Bundestagsdebatte differenzierter geäußert, sagte am Sonntagmorgen Friedbert Pflüger, Mitglied im Bundesvorstand der CDU. Er sagte es in ebendem wehleidigen Ton, den er schon bei seinem Bericht von seinen studentischen Erfahrungen mit 68 und deren Folgen angeschlagen hatte. Aber, so fuhr er fort und da brachte ihn auch der Einwurf aus dem Publikum – „das können Sie hier nachholen!“ – nicht ins Stocken, er habe schon auf seinem Weg zum Rednerpult gespürt, wie die aufgeladene Atmosphäre solches verhindern würde. Friedbert Pflüger hätte sich nun auch in der Evangelischen Akademie in Tutzing ein weiteres Mal über die eindeutig gegen ihn gerichtete Stimmung beklagen können. Darüber, dass sie erneut Hindernis einer nuancierteren Rede gewesen sei. Aber er musste die Aufforderung aus dem Publikum aus anderen Gründen ignorieren. Friedbert Pflüger fehlen die Mittel, sich zum Thema 1968 angemessen zu äußern. Im Besonderem aber fehlen ihm die Mittel, sein Porträt des Außenministers als junger Mann differenziert zu zeichnen.

Diese Mittel fehlten erstaunlicherweise auch Konrad Adam, ehemals Feuilletonredakteur der FAZ und nun politischer Chefkorrespondent der Welt. Vielleicht um nicht der plumpen Vorgabe Pflügers zu folgen, der Joschka Fischer ein weiteres Mal in eine Linie mit den heutigen ausländerfeindlichen Totschlägern stellen sollte, fand Konrad Adam nun in Fischers Mitstreiter Tom Koenigs den moralisch verwerflichen 68er. Dass er sein Millionenerbe 1973 dem Vietcong vermachte, sei Anstiftung zum Völkermord gewesen, ereiferte sich Adam. Sein Vortrag geriet ihm allerdings zu sehr zu einer Spezialanfertigung, als dass klar wurde, wohin seine originelle Argumentation zielte.

„Das Erbe von 68“ lautete der Titel der Tagung in Tutzing. Doch Erbe ist nicht der Begriff, der Pflüger und Adam hier zur Hand wäre. Für sie ist 1968 eine neue, zweite „deutsche Vergangenheit“. Und da sind Schuldbekenntnisse gefordert und Vergangenheitsbewältigung. Friedbert Pflügers Einlassungen an diesem sonnigen, frühlingshaften Sonntagmorgen am Starnberger See waren recht besehen ein Desaster. Denn es stellte sich heraus, dass eine vollkommen legitime konservative Position nirgends in die CDU/CSU, in keinem ihrer Teile, vertreten ist. Das politische Feld wird vollständig den Meyers, Kochs und Stoibers überlassen, ihrem reaktionären Rechtspopulismus, mit dem sich Pflüger in seinem Fischer-Skinhead-Vergleich geistig kurzschließt.

Dass die Position einer keineswegs neuen, sondern eben bürgerlichen oder auch – man war ja nicht grundlos in einer evangelischen Akademie zusammengetroffen – christlichen Mitte leer blieb, dagegen half kein Adam und sogar kein Heiner Geißler, der diese Position stark zu machen suchte. Aber er ist in seiner Volkspartei eine offensichtlich wirklich zu singuläre Erscheinung.

Geißler sah denn auch keine Berechtigung in Konrad Adams Vorwurf an Tom Koenigs; dem fehlte nämlich der Vorsatz und das subjektive Unrechtsbewusstsein, also nirgendwo ein Tatbestand und nirgendwo die Notwendigkeit einer Anklage. Das „hanebüchen naive Herumfuchteln mit der Gewaltmetapher“, von dem Karl Heinz Bohrer vor kurzem in der Zeit sprach, war seine Sache nicht. War es dann der Kotau eines damals revolutionär Engagierten vor der heute vorherrschenden Bankangestelltenmentalität (den Bohrer konstatierte), wenn Daniel Cohn-Bendit die lange Zeit, die die Linke brauchte, um das Gewaltmonopol des Staates zu akzeptieren, als einen Schaden am 68er-Erbe benannte, in dem er auch die moralische Verantwortung für den Terrorismus sah?

Den Tenor einer staatsanwaltschaftlichen Untersuchung an Stelle einer historischen Aufarbeitung beklagte in seinem Abendvortrag jedenfalls der Historiker Hans Mommsen, der sich gegen die arrogante Kritik an den 68ern verwahrte. In der hypertrophen Reaktion der Polizei und eines Justizsystems, das umstandslos dem autoritären Staat zu Hilfe eilte, erkannte er einen wesentlichen Grund der Verschärfung der Studentenproteste, die er als junger Ordinarius und keineswegs als 68er miterlebte. Auch wenn der parlamentarische Prozess selbst von dieser justizstaatlichen Tendenz kaum betroffen war, ergab sich damit eine politische Stimmung des Juste Milieu, in dem die neue Linke, die sich schon in den 50er-Jahren, in den Ostermärschen oder der Aktion „Kampf gegen den Atomtod“, herauszubilden begonnen hatte, politisch isoliert war.

In diesem Argument fand sich die Anschlussfähigkeit für die Thesen von Thomas Schmid, politischer Redakteur der FAZ, oder auch für die Überlegungen Rupert von Plottnitz’, ehemals Wahlverteidiger des RAF-Mitglieds Jan-Carl Raspe, später grüner Justizminister und nun Abgeordneter in Hessen. Wenn Angela Merkel am 17. Januar in der Bundestagsdebatte um die Vergangenheit Joschka Fischers davon sprach, dass die Bundesrepublik seit 1949 eine „freiheitliche, solidarische, weltoffene Republik“ gewesen sei, so war sie das, wie Thomas Schmid sagte, „virtuell“, und sie war „lange Zeit auch alles andere als das“. Rupert von Plottnitz sah in Merkels Aussage das Verlangen nach einer Verklärung der 60er-Jahre: „Die Bundesrepublik Deutschland war eine verfasste Demokratie, deren Verfassungswirklichkeit aber, das wäre meine These, in weiten wichtigen Bereichen durch vordemokratische Strukturen geprägt war.“ Dieses Demokratiedefizit rechtfertigte in seinen Augen auch eine Revolte. Dass die von einer ratlosen Opposition angezettelte Debatte dann doch so intensiv geführt wurde, trotzdem sie mehr schnöden tagespolitischen Anlass hatte denn echte Dringlichkeit, war für ihn Hinweis, dass die Politik der Gegenwart „so etwas wie Langeweile an sich selbst“ verspürt, in einer Zeit, in der sich alles in der neuen Mitte drängelt.

Einmal mehr stellte sich auf der Tagung heraus, dass die Linke – trotz des ehrenwerten und gewichtigen Engagements von Heiner Geißler – die Diskussion um 68 weiterhin mit selbst führen muss. Aber das, darauf wies schließlich noch Johano Strasser hin, hatten wir schon, so war das von Anfang an. Thomas Schmids Annahme, die überfällige Historisierung von 68 sei tatsächlich geschehen, weil in der aktuellen Debatte die Akteure von damals das Deutungsmonopol über diesen Teil ihrer Geschichte verloren hätten, muss, so das Resümee von Tutzing, leider als zu optimistisch angesehen werden. Und dies ist nicht die Schuld der Linken.