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Kurs gegen Kutschma

aus Kiew BARBARA OERTEL

Vor dem Parlament im Zentrum Kiews stehen sie sich Auge in Auge gegenüber. Angehörige des ukrainischen Sicherheitsdienstes und der Miliz, behelmt und mit Schlagstock auf der einen Seite der Metallabsperrung, das aufgebrachte Volk auf der anderen. „Kutschmu he, Kutschmu he!“ (Kutschma weg!) hallt es im Stakkato aus einem Megafon über den Platz. „Kutschmu he, Kutschmu he!“, gröhlt die Menge.

Die Gesichter der Menschen sind wutverzerrt. „Wir fordern, dass im Mordfall Gongadse eine unabhängige Ermittlung eingeleitet wird und die Mörder, die in der Ukraine an der Macht sind, vor ein unabhängigs Gericht gestellt werden“, ruft eine ältere Frau. Doch nicht nicht nur eine mögliche Mitverantwortung von Staatspräsident Leonid Kutschma für den mysteriösen Tod des kritischen Journalisten Georgi Gongadse, dessen Leiche bis heute nicht zweifelsfrei identifiziert ist, lässt die Volksseele kochen. Seit der Veröffentlichung von heimlich mitgeschnittenen Gesprächen im Arbeitszimmer des Präsidenten ist überdies auch noch quasi offiziell, was viele schon lange vermuten: dass sich eine kleine, korrupte Machtelite mit kriminellen Machenschaften auf Kosten der Allgemeinheit schamlos bereichert. „Kutschma hat dem Volk Millionen Dollar gestohlen, aber er kommt dafür nicht ins Gefängnis“, sagt ein 18-Jähriger aus der Reihe der Demonstranten. „Wenn wir ein halbes Brot stehlen, müssen wir sitzen. Wir sind eben nur Hunde, die auf der Straße leben.“

Doch jetzt stehen die Gedemütigten auf. Zuerst belagerten die Protestler die Kiewer Innenstadt mit Zelten, bis die Miliz dem Anti-Kutschma-Camping vor vier Wochen ein abruptes Ende setzte. Seitdem wechseln sich Kundgebungen, Protestmärsche und Streiks in Instituten und Hochschulen fast im Tagesrhythmus ab. Und das, obwohl eine Demonstration am 9. März nach Auseinandersetzungen mit der Miliz für dutzende Demonstranten in Krankenhäusern endete.

An der Spitze der Oppositionsbewegung stehen mehrere Organisationen, wie „Ukraine ohne Kutschma“ und das „Forum zur nationalen Rettung“. Über 30 politische Gruppen haben sich hier zusammengeschlossen, von links bis rechts außen. Sie sind nur in einem einig: Kutschma muss gehen. Ein Programm für die Zeit danach ist so wenig in Sicht wie eine Persönlichkeit, die den bunten Haufen zusammenhalten könnte.

Dennoch scheint dem angeschlagenen Staatschef der Druck der Straße allmählich zu groß zu werden. So feuerte Kutschma am Montag vergangener Woche Innenminister Juri Krawschenko. Der Mann fürs Grobe, laut Tonband ebenfalls am explosiven Plausch beteiligt, war wegen schlampiger Ermittlungen im Fall Gongadse schon lange Zielscheibe erbitterter Kritik. Einen Tag später wurde die ehemalige, fast zur Märtyrerin stilisierte Vizepremierministerin Julia Timoschenko nach sechswöchiger Untersuchungshaft wegen des Verdachts auf Steuerhinterziehung und Geldwäsche auf freien Fuß gesetzt. Nach kurzer Wiederfestsetzung bestätigte gestern das Oberste Gericht ihre vorläufige Freilassung.

Ob Kutschma die Krise aussitzen kann, ist zu bezweifeln. Alexander Moros, Abgeordneter und Chef der Sozialisten, gibt ihm noch eine Galgenfrist bis zum Sommer. Mit anderen Rechtsexperten bastelt Moros an weit reichenden Verfassungsänderungen, die die Vollmachten des Präsidenten zugunsten von Parlament und Regierung einschränken. Am Ende der Bemühungen soll eine Mehrheitsregierung stehen, die die Parlamentarier in die Verantwortung nehmen können.

Dieses Projekt dürfte Kutschma kaum schmecken. Schließlich war er es, der sich im April vergangenen Jahres per Volksentscheid mit weit gehenden Kompetenzen ausstatten ließ – ein Ergebnis, das das Parlament bis jetzt nicht absegnete. „Der jetzige Mechanismus gibt dem Präsidenten die Möglichkeit, die Macht zu usurpieren, was er auch getan hat“, sagt Moros.

Doch dass die Allmacht Kutschmas ein Mythos ist und selbst mit einer Verfassungsänderung die Demokratie kaum über Nacht in der Ukraine einziehen wird, weiß auch Moros. Denn schon jetzt spielt die Musik auch im Parlament, doch nicht so, wie es der Sozialist gerne hätte. Dort beobachtet der Vizepräsident des Parlaments und einer der reichsten Männer der Ukraine, der Oligarch Viktor Medwedschuk, genauestens den Gang der Ereignisse. Dem Mitchef der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei, eine von drei im Parlament vertretenen Oligarchenparteien, den die Zeitung Serkalo Nedeli unlängst als zweites Machtzentrum in der Ukraine bezeichnete, werden gute Beziehungen zu Kutschma nachgesagt. Noch. Denn gleichzeitig lockt die Perspektive, angesichts eines schwächelnden Präsidenten in die Regierung vorzustoßen.

Das könnte am 17. April passieren. Dann muss nämlich Premierminister Viktor Juschenko einen Rechenschaftsbericht über die Tätigkeit seiner Regierung geben und über sein Kabinett abstimmen lassen. Das könnte knapp werden. Denn sowohl die Kommunisten, mit 112 Abgeordneten stärkste Fraktion, als auch die Oligarchenvertretungen, denen Juschenkos Kampf gegen Korruption aufstößt, könnten dem Premier die rote Karte zeigen.

Für den Politologen Wladimir Polochalo ist die derzeitige Krise nur eine Illustrierung des neototalitären Kurses, den die Ukraine seit der Unabhängigkeit 1991 eingeschlagen hat. „Wir haben zwar ein Parlament, einen Präsidenten und ein Verfassungsgericht. Doch das sind nur dekorative Organe. Auch die offizielle Rhetorik über einen europäischen Weg und demokratische Werte ist nur ein Kleid, das der Präsident anzieht, wenn er nach Deutschland oder Polen fährt“, sagt Polochalo. „Wenn er zurückkommt, herrscht wieder die reale politische Praxis. Hier bestimmt nicht das Recht die Politik, sondern umgekehrt. Das Recht ist ein Instrument der einflussreichsten Finanzgruppen. Politik und Business sind eine perfekte Symbiose eingegangen.“

Wohin die Reise geht, weiß Polochalo nicht. Damit steht er nicht allein. Die Zeitung Serkalo Nedeli schreibt: „Politik ist die Kunst des Möglichen. Wenn man diese Kunst nicht beherrscht, ist sogar das Unmögliche möglich.“

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