: Imaginäre Palazzi
3-D-Wohnen als neuer Cyberspace des kleinen Mannes
München boomt: Von der IT-Branche frisch angeworbene Besserverdiener aus der ganzen Republik haben dem Mietwohnungsmarkt endgültig den Todesstoß versetzt. Für den Normalverdiener ist Wohnen mehr und mehr zum unerschwinglichen Luxus geworden. Quadratmeterpreise von schwindelerregender Höhe und ein dahinsiechender sozialer Wohnungsbau sind Merkmale des Münchner Stadtlebens, mit denen sich jeder Mieter abzufinden hat. Das völlige Versagen des Weltgeistes im Hegel’schen Sinne, für bezahlbare Mieten zu sorgen, machen den Wohnungssuchenden zum gehetzten Freiwild skrupelloser Immobilienhaie inmitten der grund- und bodenlosen Unwirtlichkeit der Laptop-&-Lederhosn-Metropole.
Doch hinter dem Beton lockt jetzt wieder „Schöner Wohnen“: Keine Fata Morgana, sondern Wohnrealität, die eines der drängendsten Probleme unserer Zeit lösen könnte, entsteht derzeit in Münchens autobahnnahen Außenbezirken. Das Verdienst, die Volksweisheit „Platz ist in der kleinsten Hütte“ mit neuem Leben erfüllt zu haben, kommt dabei ohne Zweifel dem Ulmer Architekten Hartmut Wendelin zu. Der Grandseigneur des Wohnsilogedankens hat mit gewohnter Nonchalance ein neues Kapitel abendländischer Baukunst aufgeschlagen. Seine „MagicView“-Appartementhäuser bestechen durch zeitgemäße Grundrisse, ansprechende Ausstattung und – was am wichtigsten sein dürfte – moderate Preise. Die speziell für Großstadt-Singles konzipierten 3-D-Appartements überzeugen auch den verwöhnten Liebhaber anspruchsvoller Wohnkultur mit einer ganzen Reihe futuristisch anmutender Detaillösungen:
Der große alte Mann des sozialen Wohnungsbaus definiert mit seinen bis zu 5 m großen Wohneinheiten, die vom Boden bis zur Decke mit 3-D-Bildern austapeziert sind, das Erlebniswohnen neu. „Wendelins Appartements sind“, wie die renommierte Wohnzeitschrift Silo anmerkte, „weit mehr als nur zeitgemäß verschlankte Wohnbereiche, sie sind der Cyberspace des kleinen Mannes.“
Auf die Idee mit den 3-D-Tapeten kam Wendelin, als sein Sohn Florian zum Geburtstag ein „Magic Eye“-Buch geschenkt bekam und sich fortan stundenlang in die dreidimensionale Bilderwelt versenkte. Ins Großformat übertragen, so Wendelins Vision, könnte die 3-D-Bildtechnik selbst kleinste Wohnzellen zu virtuellen Wohnlandschaften großzügigsten Zuschnitts aufwerten. Mit Hilfe einer simplen 3-D-Brille erschließen sich dem Mieter je nach Geschmack die Zimmerfluchten eines imaginären Renaissance-Palazzo, die herrschaftliche Anmutung einer Gründerzeit-Wohnetage oder die Märchenarchitektur Neuschwansteins. Für den Bewohner einer der Wendelin’schen Betonkammern wäre selbst der illusionistische Blick in einen Landschaftsgarten im englischen Stil oder einen japanischen Tempelgarten keine Zukunftsvision mehr.
Durch den völligen Verzicht auf überflüssige Fenster konnte Wendelin, quasi als Nebeneffekt, ein so hohes Maß an Wärmedämmung erreichen, dass die „MagicView“-Appartements mit Abstand als die effektivsten Energiespar-Wohnungen gelten, die derzeit weltweit angeboten werden.
Sicherlich, für Frischluftfanatiker mit schmalem Portefeuille und ausgeprägtem Hang zur Morbidezza bieten sich nach wie vor Parkbänke, Brückenbögen und innerstädtische Unterführungen als noch kostengünstigere Variante des Erlebniswohnens an, aber wem ein derartiges Outdoor-Lifestyle-Konzept doch ein Übermaß an street credibility bedeutet, der ist in Wendelins visionären Wohnwaben bestens aufgebahrt, pardon, aufbewahrt.
RÜDIGER KIND
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