piwik no script img

Der den Hyänen entkam

Touristen heute kommen wegen der vielen Moscheen oder wegen des orientalischen Flairs nach Harar. Der französische Dichter Arthur Rimbaud lebte fünf Jahre in der ostäthiopischen Stadt. Auf Spurensuche in den engen Altstadtgassen

von PETER BOEHM

Wenn abends die letzten Zuschauer aus dem Provinzkino geströmt sind und man die steile „Machina Girr Girr“ hinunterläuft, kann man wohl noch am besten den Charme des alten Harar erahnen. Man lässt die letzten elektrischen Straßenlaternen hinter sich. Die mechanischen Nähmaschinen, deren Surren der Straße den Namen gab, sind weggeräumt, und auf dem „Maghala gudi“, dem großen Markt, ist feierliche Stille eingekehrt. Am Tag verschachern hier noch Oromo-Frauen Brennholz, das sie auf Eseln aus ihren Dörfern in der Umgebung hergebracht haben. Ihr Haar tragen sie auf traditionelle Art, zu dünnen Zöpfchen geflochten. Die Oromo-Männer kann man hier Rasierklingen oder Streichhölzer kaufen sehen. Sie wirken martialisch mit ihrer „Mantscha“, einer kleinen Sichel an einem Stock, über der Schulter und dem Wickelrock um die Beine. Auch sie haben noch traditionelle Haartracht. Nur der Holzkamm in ihrer Afrofrisur ist inzwischen durch einen aus Plastik ersetzt worden.

Nun ist der Markt leer. Nur hier und da glühen noch Holzkohlen in Tontöpfen, über denen die Umsitzenden ein mageres Essen zubereiten. Lange Schatten huschen über den Platz und verschwinden in den notdürftig aus Plastikplanen, Kartons und Ästen aufgebauten Zelten. Die Läden in den engen Nischen, in denen man vom Haarshampoo bis zum Kaugummi alles kaufen kann, sind geschlossen, und die Khat-Kauer, die sich tagsüber in zerlumpten Kleidern auf dem Boden liegend dem Rausch der grünen Zweige hingeben, sind vor der kühlen Abendluft in ihren Löchern in den Lehmmauern der Stadt verschwunden. Nun wirken die Straßen still und heimelig, und die engen Gassen laden zum Verweilen ein.

Auch wenn viele Details stimmen dürften, ganz so wie zu Zeiten des französischen Dichters Arthur Rimbaud, Ende des 19. Jahrhunderts, ist es dennoch nicht. Denn spätabends ging damals in Harar niemand spazieren. Zu dieser Tageszeit gehörten die engen Gassen den Hyänen. Die Stadttore wurden für die Aasfresser geöffnet, damit sie den Abfall vertilgten. In dieser kleinen Stadt, in dieser gottverlassenen Gegend im Osten des heutigen Äthiopien hat Arthur Rimbaud in den 80er-Jahren des 19. Jahrhunderts fünf Jahre lang gelebt. Seinen Zeitgenossen galt er als verschollen, manche hielten ihn gar für tot. Nun, da der äthiopisch-eritreische Krieg vorüber ist, kann man wieder den Ort besuchen, der den Verfasser von „Eine Zeit in der Hölle“, den Verkünder der „freien Freiheit“ und – wie viele glauben – einen der wichtigsten Poeten der Moderne, versteckt gehalten hat. Damals, mehr noch als heute, war Harar ein exotisches Reiseziel.

Rimbaud wurde hierher als Vertreter einer französischen Handelsgesellschaft entsandt, die von Aden aus, im heutigen Jemen, Frankreich mit Kaffee versorgte. Später machte er sich selbstständig und organisierte eine Karawane mit Gewehren für König Menelik von Shoa, den Begründer des modernen abessinischen Kaiserreichs. Obwohl die Literaturwissenschaftler Rimbauds Abkehr von der Poesie als noch nicht Zwanzigjähriger – seinem Jugendfreund Ernest Delahaye schrieb er: „Um so etwas kümmere ich mich nicht mehr“ – seit je fasziniert hat und es deshalb eine Menge Sekundärliteratur über ihn gibt, entzieht sich seine Zeit in Harar doch trotzig jeder Kategorisierung.

Der kauzige Expatriat? Der geschäftige Händler, der so schnell wie möglich reich werden wollte? Der Zivilisationsflüchtling, der alles ablegte, was er an europäischer Bildung und Prägung im Gepäck hatte? Von allem ein bisschen und nichts doch so ganz. Und hinzu kommt noch, dass sich die Quellen – vor allem Erinnerungen von Freunden und Geschäftspartnern – teilweise widersprechen, wohl auch, weil sie großenteils erst viele Jahre nach Rimbauds Tod aufgeschrieben wurden.

Die Dokumentation seines Aufenthalts in Harar wird dem nicht abhelfen. Wenn man in der Stadt nach Rimbaud fragt, wird man heute jedoch nicht mehr, wie noch vor ein paar Jahren, auf Rambo-Filme in der Videothek verwiesen. Denn nun gibt es auch das „Bet Rimbo“, das Rimbaud-Haus, ein fragwürdiges Beispiel für das, was aus der Zusammenarbeit von westlichen Gebern, wie in diesem Fall der französischen Regierung, und afrikanischen Kulturverwaltern entstehen kann.

Das Bet Rimbo ist das frisch renovierte Haus eines griechischen Händlers. Recht schön zwar, das Problem ist nur, dass Rimbaud nie darin gelebt hat. Seit den Forschungen vor allem von Charles Nicholls räumt der pomadige Führer durch das Haus das auch kleinlaut ein. Die Ausstellung mit historischen Aufnahmen von Harar und einigen zusammenhanglosen Schautafeln zu Rimbauds Leben macht es auch nicht viel interessanter. Mehr Spannung lässt da schon eine neue Legende aufkommen, die sich in der Grauzone zwischen der Geschäftstüchtigkeit der Reiseführer und der seriösen Forschung entwickelt hat. Herr Endalle, der sonst sachkundig auf alle Journalistenfragen antworten kann, beruft sich verschwörerisch auf einen französischen Journalisten, wenn er ein anderes Haus als Rimbauds letzte Wohnstätte vorführt. Es steht am „Faras Maghala“, am ehemaligen Pferdemarkt, ist einstöckig, hat himmelblaue Fensterläden und beherbegt heute das Hotel Mekonnen.

Am Tag schlürfen dort im Erdgeschoss unbedarft aussehende Passanten ihren Cappuccino. Am Abend verwandelt es sich in eine der spärlich beleuchteten äthiopischen Kneipen, in denen naive Bilder an die Wände gemalt sind, „Cool and the Gang“ aus den Lautsprechern plärren, und Mädchen mit zweifelhaftem Ruf in den Ecken herumstehen. Man kann darüber spekulieren, ob Rimbaud der verliesartige Keller des Mekonnen gefallen hätte, und noch unsicherer ist, ob er das Haus überhaupt jemals betreten hat. Aber klar ist, dass es solche Orte gewesen sein müssen, die die galligen Briefe an seine Mutter und seine Schwester in der Heimat in den französischen Ardennen inspiriert haben. Die Idiotie des afrikanischen Provinzstadtlebens spricht aus allen von ihnen. Doch die Briefe führen auf eine falsche Spur, zumindest geben sie kein vollständiges Bild von Rimbauds Leben in Harar. Denn es scheint so, als habe er nur dann an seine Familie geschrieben, wenn er frustriert war und niemand anders damit belästigen konnte.

Die Briefe an seine Geschäftskollegen und Freunde sprechen eine andere Sprache. Darin erweist sich Rimbaud als witziger, in den politischen Entwicklungen der Region versierter Beobachter, der Europa gänzlich den Rücken gekehrt hat. In den Erinnerungen derer, die ihn in Harar trafen, hatte er sich den afrikanischen Lebensumständen stark angepasst. Er pinkelte wie bei den Muslimen üblich am Boden kauernd, diskutierte mit den Ältesten über den Koran und lebte in den letzten drei Jahren seines Lebens in Harar in äußerst kargen Verhältnissen, mit einem Schreibtisch, einem Stuhl, aber ohne Bett, wie ein italienischer Reisender berichtet, der kurze Zeit bei ihm wohnte.

Bevor Rimbaud – wie damals bei den Harari als Bestattung üblich – an die Hyänen verfüttert werden konnte, rettete er sich noch schwer krank an die somalische Küste und auf einen Dampfer nach Marseille. Fünf Wochen später, im Sommer 1891, starb er mit 37 Jahren.

Auch abgesehen von Rimbauds Spuren gibt es in Harar einiges zu sehen. Die meisten Touristen kommen ohnehin wegen der von der Unesco zum Weltkuturerbe erklärten, nur aus Lehm und Felssteinen erbauten, enggassigen Altstadt oder wegen des orientalischen Flairs.

Harar hat über 90 Moscheen und gilt als viertheiligste Stadt des Islam. Ganz ausdauernde Reisende können mit dem Zug von der Hafenstadt Dschibuti nach Dire Dawa fahren. Und dann in einer Stunde mit dem Bus den steilen Abhang des ostafrikanischen Grabenbruchs hoch auf die Hochebene von Harar. Die 12-stündige Zugfahrt folgt in groben Zügen der Karawanenroute, für die Rimbaud damals noch mehr als 20 Tage brauchte. Die Züge sind nur mit Holzbänken ausgerüstet, haben keine Fensterscheiben, aber der Blick ist lohnend: Man sieht, welch fruchtbare Insel die Hochebene von Harar in der von Afar und Somalis bewohnten Wüste ist. Für die Eiligen tut es natürlich auch ein Flugzeug oder ein Bus aus der äthiopischen Hauptstadt Addis Abeba. Die Nachfahren der Hyänen, denen Rimbaud damals gerade noch entkam, sind heute noch in Harar zu sehen. Es sind keine Leichen mehr, die sie zu fressen bekommen, sondern Schlachtabfälle, und sie werden jeden Abend am selben Ort gefüttert, sind also gezähmt, aber es ist dennoch ein Schauspiel, wenn sie der „Hyänenmann“ mit hoher Stimme aus der Dunkelheit lockt. Mit eingekniffenem Schwanz fressen sie ihm aus der Hand oder jagen sich gegenseitig mit dem „Lachen der Hyänen“, das eher wie das Gekeife von Schimpansen klingt, die Beute ab.

Literatur zu Rimbaud in Harar:Charles Nicholl: „Somebody Else“; Alain Borer: „Rimbaud en Abyssinie“. Enid Starkie: „Rimbaud“ (Biografie)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen