: Graswurzeln auf Sendung
In den USA ist das Programm von „IMC Newsreal“ am Donnerstag gestartet. Fernsehen von unten machen die deutschen Indymedia-Aktivisten zwar bisher noch nicht, doch beim Castor-Transport hatten sie die medialen Fäden fest in der Hand
von RALPH WILDNER
Rückblende: Wendland, vor zwei Wochen. Einige hundert Menschen sitzen frierend auf den Gleisen, über die der Castor-Transport rollen soll. Sie sind zu frieden, denn sie wissen, dass sie noch lange sitzen werden: Auf dem mitgebrachten Taschenfernseher haben sie über „indymedia-tv“ fast in Echtzeit erfahren, dass sich vor wenigen Minuten vier AktivistInnen einige Kilometer westlich ins Gleisbett einbetoniert haben. Die Kameraleute: die AktivistInnen selbst ...
Noch ist es Science-Fiction, dieses Szenario, zumindest für Deutschland. In den USA läuft das Fernsehen „von unten für unten“ dagegen seit Donnerstag. Keine professionellen Journalisten, sondern unabhängige Video-Gruppen sind in 18 US-amerikanischen Städten, in Vancouver und Courtenay in Kanada sowie im englischen Brighton unterwegs, um Beiträge für das Pilotprogramm von „Indymedia Newsreal“ zu filmen. Die in den USA tief verwurzelte Freespeech-(„freie Rede“)-Bewegung erhält damit ihre erste Stimme über Satellit. Zur Begründung ihrer Aktivitäten berufen sie sich auf den Medienwissenschaftler Ben Bagdikian, der feststellt, dass nur sechs multinationale Konzerne sämtliche US-Medien kontrollieren, die Belange der Menschen dagegen vom Einheits-Infotainment gar nicht mehr berücksichtigt werden. Diese Situation wollen die unabhängigen Medienrebellen „auf den Kopf stellen“.
Hier in der alten Welt steht der Schritt zum Satellitenfernsehen noch lange nicht an. Im Berliner Mehringhof sind knapp 20 Engagierte erst einmal glücklich, dass das Internet-Informationsforum www.indymedia.org seinen Probelauf im Wendland mit Bravour bestanden hat. Sie sind so etwas wie die Berliner Redaktion des deutschen unabhängigen Medienzentrums (Independent Media Center/IMC). Zusammen mit Aktiven aus Hamburg und Leipzig haben sie gerade rechtzeitig zum Castor-Transport Ende März die deutsche Indymedia-Homepage in Betrieb genommen. Dort findet man Nachrichten über den Anti-Atom-Protest, erstellt und übermittelt von den DemonstrantInnen selbst, unzensiert und ohne Verzögerung. Nichts weniger wollen sie bieten als eine unverstellte Stimme der Bewegung.
Die deutsche Sektion, die jetzt als „IMC Wendland“ ihren ersten Auftritt hatte, ist ein Spross des internationalen, nichtkommerziellen Nachrichten-Netzwerks www.germany.indymedia.org. Dessen Wurzeln liegen in Seattle, wo im November 1999 die Tagung der Welthandelsorganisation WTO stattfinden sollte – und das auf Grund der heftigen Proteste nur eingeschränkt stattfinden konnte. Um Dokumentation und Interpretation der Proteste nicht den konventionellen Medien zu überlassen, lieferten Teilnehmer der Proteste eigene Aufnahmen und Berichte an Indymedia – und konnten damit sogar die bürgerliche Presse zum Widerrufen von Falschmeldungen zwingen. Fotos von eingesetzten Gummigeschossen waren stärker als die Meldung, es seien keine eingesetzt worden.
Der Erfolg von Seattle hat schnell zur Gründung weiterer IMCs geführt: Derzeit gibt es 52 Stück, 26 davon in den USA, den Rest über die Welt verstreut.
Zum Schlüsselerlebnis für die deutschen AktivistInnen wurde die IWF- und Weltbanktagung im September 2000 in Prag, wo es gelang, durch die schnelle und genaue Berichterstattung des IMC die Proteste zu begleiten und zu koordinieren.
Wer sich überhaupt IMC nennen darf, gerät bei so viel Euphorie allerdings ein wenig aus dem Blick: Grundsätze fast aller IMCs sind „open posting“ und die Möglichkeit, zu kommentieren. Das heißt, jeder darf seinen Beitrag einsenden und weiß, dass dieser unverändert publiziert wird. Und jeder darf jeden Beitrag kommentieren – nicht nur, um ein Geschmacksurteil abzugeben, sondern vor allem um viele Einzelbeobachtungen zu einem möglichst genauen Bild zu verweben. Für die deutsche Redaktion ergab sich daraus ein Problem: Wie soll mit rassistischen und sexistischen Beiträgen umgegangen werden? Darf man die tatsächlich veröffentlichen? Und wie verfährt man mit „spam“-Angriffen, die den Server mit großen Mengen unbrauchbarer Mails zuschütten und blockieren?
Die vorläufige Lösung ist eine dreigeteilte Website: Auf der ersten Seite stehen ausgewählte, für gut befundene Beiträge, auf der zweiten der ganze Rest – bis auf ausgewählten Schrott, der im „Müllarchiv“ abgelegt und auf Wunsch per E-Mail zugeschickt wird. Ein Spagat zwischen Meinungsfreiheit und political correctness, der erst in diesen Tagen auf den Foren der Indymedia-Welt entschieden werden soll. Im Netz natürlich, wo sonst.
Die Redaktion, die ja nicht redigiert, sondern nur sortiert, ist schon damit mehr als ausgelastet. Schließlich besteht sie nur aus ehrenamtlichen Freiwilligen, manche mit Computerkenntnissen, manche ohne, die sich neben Schule, Studium oder Beruf die Zeit für das IMC aus dem Kreuz leiern. Zum Profilieren taugt der Job auch nicht, schließlich tauchen nirgendwo die Namen der MitarbeiterInnen auf, in der Zeitung wollen sie auch nicht erwähnt werden, auch nicht mit Vornamen. „Die Repression nimmt zu“, erklärt einer aus der Kerngruppe, keiner könne wissen, ob „die“ nicht morgen auch gegen IMCs vorgehen. Unbotsam genug sind sie ja, und die von Polizisten eingeschlagenen Scheiben des Indymedia-Autos im Wendland sprächen für sich.
Ein anderes Problem ist das Geld für die Ausstattung mit Arbeitsmaterial, mit Rechnern, Druckern, Digitalkameras: Werbeeinnahmen gibt es nicht, Verkaufserlöse logischerweise auch nicht, steht doch auf jeder Seite der freien, zum Weiterverbreiten herausgegebenen Informationen die Zeile „fuck copyright“. Einzige Einnahmequelle sind also private Spenden, doch auch in dieser Hinsicht sei Europa noch einen guten Schritt hinter den USA zurück. Ein zuverlässiger Förderer steht dem IMC immerhin mit dem Berliner „Netzwerk e.V.“ zur Seite.
An der Homepage selbst bleibt noch einiges zu tun. Noch ist keine Suchfunktion eingerichtet, und die Arbeit an den Übersetzungen geht schleppend voran: Automatisch geht’s dann doch nicht, und im Pool sind einfach zu wenige Leute. Das Graswurzel-Medien-Netzwerk „von unten für unten“ ist keine leichte Aufgabe, aber zum Lamentieren bleibt keine Zeit. Wenn die Wendland-Nachbereitung gelaufen ist, wird man schon mitten in den Vorbereitungen für die nächsten Aktionen sein.
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