: Der Verdacht
„Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen“, meint der Bundeskanzler. Nur: Auch Arbeitslose haben ein Recht auf Entscheidungsfreiheit
Die Streitfrage ist ein Hit, nicht nur in der großen Politik. Auch ein Abendessen unter Berufstätigen aus dem so genannten linken Milieu bekommt sofort neuen Schwung, wenn einer diese gewisse Frage stellt, zu der jeder etwas beizusteuern hat: Bemühen sich Arbeitslose wirklich um einen neuen Job? Oder sind die Menschen nicht doch zu bequem, verdirbt die „Stütze“ gar den Charakter?
Bundeskanzler Schröder hat den Verdacht jetzt mal wieder aufgegriffen. „Wer arbeiten kann, aber nicht will, der kann nicht mit Solidarität rechnen. Es gibt kein Recht auf Faulheit in unserer Gesellschaft!“, verkündete der Kanzler gestern in der Bild-Zeitung. Laut einer Allensbach-Umfrage glauben inzwischen 66 Prozent der Westdeutschen (Osten: 40 Prozent), viele Erwerbslose wollten gar nicht arbeiten. Vor sieben Jahren lagen diese Werte erheblich niedriger.
Die öffentliche Meinung verändert sich, Erwerbslose geraten zunehmend unter den Verdacht der „Faulheit“. Das ist vor allem deswegen dramatisch, weil die Daten das Gegenteil belegen. Die Zahl der Arbeitslosen und die Ausgaben für Arbeitslosengeld und -hilfe sind im Jahr 2000 im Vergleich zum Vorjahr gesunken, bei der Arbeitslosenhilfe sogar um 15 Prozent. Auch die Ausgaben für die Sozialhilfe sind zurückgegangen, nicht zuletzt deswegen, weil mehr Sozialhilfeempfänger in Beschäftigungsmaßnahmen vermittelt wurden.
Es gibt keinen empirischen Grund, zu glauben, Arbeitslose würden immer „fauler“. Im schärfer gewordenen Streit um die „Arbeitsmoral“ geht es um etwas anderes, um einen anderen, einen sehr hohen Wert, und deswegen ist die Debatte auch so leidenschaftlich: Es geht um die Verteilung von persönlicher Freiheit. Haben alle Bürger die gleiche Entscheidungsfreiheit – oder nehmen sich einige mehr davon als die andern?
Dürfen Arbeitslose einen Job verweigern, den auch die meisten Erwerbstätigen nicht haben wollten, eine schlecht bezahlte, verschleißende Tätigkeit in der Spargelernte beispielsweise oder als Packer bei einem Speditionsunternehmen? Oder gestatten sich Arbeitslose auf Kosten anderer eine Freiheit, die sich diese anderen eben nicht herausnehmen – nämlich sich lieber mit „Stütze“ und ein bisschen Schwarzarbeit durchzuschlagen, anstatt sich in die Mühle eines Vollzeitjobs zu begeben?
Die üblichen Argumente in diesem Streit, sowohl von der rechten wie von der linken Seite, greifen dabei zu kurz. Die Arbeitgeber diagnostizieren gern die fehlende Arbeitsmoral – schließlich suchen Bäcker und Hotelchefs händeringend Hilfskräfte. Von Gewerkschaftsseite dagegen heißt es, es gebe nach wie vor kaum Stellen für Erwerbslose, und diese würden jetzt auch noch Opfer öffentlicher Demütigungen.
Beide Seiten argumentieren moralisch, aber genau darum geht es nicht. Arbeitslose sind weder moralischer noch unmoralischer als der Rest der Gesellschaft. Sie denken in ihren Lebensentwürfen genauso in Kosten-und-Nutzen-Kategorien wie die Erwerbstätigen und haben auch ein Recht darauf.
Wer einen Job findet, bei dem er oder sie etwas lernen kann und der sogar Spaß macht, der wird diese Stelle auch annehmen. Wer hingegen nur eine Tätigkeit bekommen kann, die lediglich verschleißt, keine Zukunft hat, vielleicht sogar vorhandene Qualifikation zerstört und vergleichsweise schlecht bezahlt wird, der wird natürlich alles daransetzen, diese Stelle nicht antreten zu müssen, und sich stattdessen auf das Arbeitslosengeld verlassen.
In der Debatte um den Beschäftigungszwang für Erwerbslose geht es daher in Wirklichkeit um die Hierarchien innerhalb der Arbeitswelt, und genau das ist der entscheidende Punkt.
Denn die subjektbezogenen Ungleichheiten innerhalb der Arbeitswelt sind enorm. Interessante Arbeit, bei der man etwas lernt und sich entwickeln kann, ist oft auch gut bezahlt. Routinejobs aber, die nur körperlich verschleißen, werden schlecht entlohnt. In einer Gesellschaft, die junge deutsche Unternehmer in innovativen High-Tech-Branchen und ihre Millionengewinne feiert, ist es jungen Punks in Berlin-Prenzlauer Berg oder jungen Türken aus Berlin-Kreuzberg eben schwer zu vermitteln, dass ein Hilfsjob als Anstreicher den Zweck des Lebens darstellen soll.
Im Streit um den „Beschäftigungszwang“ für Arbeitslose geht es daher zwar vordergründig darum, sie den allgemeinen Regeln zu unterwerfen: Wer essen will, soll dafür auch ackern. Dahinter aber steht ein knallharter Hierarchisierungsdiskurs, ein Verteilungskampf um Anerkennung, Freiheit und Macht.
Ganz oben in dieser Hierarchie stehen jene, die sich ihre Arbeit selbst aussuchen können. Das sind nicht unbedingt die Hochverdiener in Stressjobs, sondern noch mehr die Vermögenden und Erben, die nicht aus finanziellen, sondern aus Gründen der Selbstverwirklichung und der gesellschaftlichen Anerkennung arbeiten. Ganz unten stehen jene, die kaum eine Chance auf einen gut bezahlten, zukunftsträchtigen und anerkannten Job haben.
Doch auch wer Anerkennung genießt, steht stärker als früher unter Leistungsdruck. Und beäugt deswegen misstrauisch jene, die sich außerhalb des Systems stellen. Vielleicht fordert deswegen jetzt auch die Neue Mitte immer lauter den „Beschäftigungszwang“.
Nun könnte man durchaus von länger Arbeitslosen fordern, gewissermaßen in ein Tauschverhältnis einzutreten. Für eine länger bezogene Sozialleistung hätte der Erwerbslose dann eine Gegenleistung zu erbringen. Nur: Die Art dieser Gegenleistung müssen die Betroffenen selbst wählen können, und es müsste entsprechende Angebote geben. Doch genau daran hapert es, will man nicht wieder einen flächendeckenden zweiten Arbeitsmarkt einrichten wie im Osten.
Die andere Möglichkeit leben die angelsächsischen Länder vor: In Großbritannien etwa wurde die Bezugsdauer von Arbeitslosenunterstützung vor einigen Jahren drastisch verkürzt, dafür bekommen Erwerbslose jede Hilfe, irgendeinen Job zu finden. Großbritannien hat heute zwar eine niedrigere Arbeitslosenquote, aber eben auch eine erheblich höhere Armutsquote als Deutschland.
Von einer Kürzung der Sozialleistungen spricht in Deutschland niemand offen. Noch nicht. Eine Kürzung der Sozialleistungen hätte auch hierzulande zur Folge, dass die Zahl der arbeitslos Gemeldeten zurückginge, so ist zu vermuten. Doch nach den Kürzungen wäre die Gesellschaft eine andere als zuvor, mit steileren Hierarchien und härterem Konkurrenzkampf. Genau um diese Entscheidung aber geht es letztlich im Diskurs über den „Arbeitszwang“. Wer von der „Faulheit“ der Erwerbslosen spricht, muss sich klar werden, worüber er wirklich redet. Und sich dann entscheiden, ob er nicht lieber den langzeitarbeitslosen Nachbarn respektiert (ohne zu wissen, warum der nicht arbeitet), als für eine Gesellschaft zu plädieren, in der die Leute gezwungen werden, sich um jeden Hilfsjob zu prügeln.
BARBARA DRIBBUSCH
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