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Echos hallen nach

Keine Verschwörung, nirgends. Stattdessen Nachbetrachtungen eines erloschenen Lebens: In sieben Kapiteln beschreibt Don DeLillo die Ausweitung der Erinnerungen auf die Gegenwart – „Körperzeit“

von HARALD FRICKE

Eine Tüte Orangensaft wird geöffnet, eine Feige aufgeschlitzt, dazu ein paar Tassen Kaffee. „Körperzeit“ beginnt mit einer dieser schläfrigen Frühstückssituationen, die man noch gar nicht wahrnimmt, bis sie einen dann den ganzen Tag begleiten wie der Refrain eines Liedes, das im Radio lief, während man müde auf die Schüssel mit Cornflakes gestarrt hatte. Für Don DeLillo sind solche Momente kostbar, weil sie den Aufprall der inneren Existenz mit der Welt da draußen markieren. Erst durch diese Zusammenstöße wacht man auf und lebt. Wie Lauren Hartke, die Performance-Künstlerin, die in seinem neuen Roman feststellt, dass das Soja in ihrem Müsli nach einem Hauch Füße riecht.

Doch das richtige Wort für den Geruch, der ihr wie „purer Geruch“ vorkommt, findet sie nicht. Sechs Seiten später hat sie sogar vergessen, wie Müsli überhaupt schmeckt. Weitere sechs Seiten später ist auch das Gespräch mit ihrem Mann Rey Robles beendet, das in der Routine eines aneinander gewöhnten Paares dahinzieht. Es wird die letzte Unterhaltung zwischen den beiden gewesen sein: Er nimmt das Auto, fährt vom Haus an der Küste nach New York und erschießt sich in der Wohnung seiner ersten Ehefrau. Dass Lauren seine dritte Frau war, erfährt man aus einem knappen Einschub, als Nachruf auf Robles in der Zeitung – nüchtern, tabellarisch, eine Pflichtsache. Stattdessen ist es an Lauren, sich zu erinnern, was in ihrer gemeinsamen Zeit Leben war.

Wieder eine Grenzsituation, immer nur Grenzsituationen. Die Bücher von DeLillo sind eine unendliche Sammlung, ja Konzentration von zufälligen Augenblicken und Ereignissen, die nie mehr ungeschehen gemacht werden können: „Sieben Sekunden“, so lange brauchte Lee Harvey Oswald für das Attentat auf John F. Kennedy; und der Baseball beim Homerun der Dodgers flog in „Unterwelt“ vierzig Jahre und bald 800 Seiten durch die US-amerikanische Geschichte. Dagegen nehmen sich DeLillos Mutmaßungen über den Tod in den sieben kurzen Kapiteln von „Körperzeit“ wie ein Rascheln im Laub aus. Es mag an der zu bisherigen Büchern entgegengesetzten Ausrichtung der Story liegen: Wo keine Spuren sind, muss man auch nicht nach Ursachen suchen. Keine Verschwörung, nirgends. Quälend genau zeigt DeLillo aber all die Folgen des Sterbens, das Lauren „immer weniger“, wie es heißt, von ihrem eigenen Leben übrig lässt.

Dabei setzt DeLillo auf die Dynamik des Übergangs: Alles ereignet sich schubweise, jedes Detail zerfällt in lauter Nachbetrachtungen. Fast gleichmütig scheint Lauren nach Reys Beerdigung eine neue Performance zu planen, macht Atemübungen und diszipliniert ihren Körper. Das Ziel der Exerzitien ist die auch physische Ausweitung der Erinnerung auf die Gegenwart – ein Gespür für das Gestern, das im Jetzt lagert. Ein Pendant dieser Einschreibung liefert das Internet: Nachts schaut Lauren auf einer Homepage dem Verkehr auf einer finnischen Landstraße bei Tage zu. Die Zeit ist verschoben und zugleich aufgehoben.

Mitunter spuken Gespenster durch diese Zwischenzone, in der sich bei DeLillo das Leben dem Stillstand annähert. Da ist jener geistig zurückgebliebene Mann, der mal als Geräusch in der Wand auftaucht und später von Lauren im oberen Stockwerk des Hauses entdeckt wird. Er bleibt eine blasse Erfindung des Autors, eine erratische Figur in Anlehnung an Gothic Novels, die als nachhallendes Echo der Stimme von Rey ein bisschen vom Mysterium der Seelenwanderung in sich birgt. Die Ruhe, mit der Lauren dem Fremden ohne Angst begegnet, macht es eher unwahrscheinlich, dass er außerhalb ihrer Fantasie existiert.

Mit unglaublicher Präzision und Sicherheit schafft es DeLillo dagegen, die Lethargie von Lauren in Lebenskunst umschlagen zu lassen. Tatsächlich weiß er um den hohen Grad der Selbstaufgabe, die Kern der meisten Performances ist, so wie die Überwindung von Schmerzen auch: „Da gibt es den Mann, der sich Nägel in den Penis hämmert. Das ist Wahrheit, sonst nichts.“ An diesen Kern der Erfahrung will auch DeLillo mit immer dichter werdenden Beschreibungen, die immer monotoner wiederholen, wie Lauren bei aller Trauerarbeit nicht ihren Körper, sondern die Wahrnehmung trimmt. Schließlich ist es die Vorbereitung auf den Tod, den sie auf der Bühne inszenieren wird – ein perfides Futur II, in dem Sterben und Vergänglichkeit besonders intensiv gelebt werden. Mehr noch, für Lauren bedeutet es den Versuch, die Zeit auszutricksen, sie anzuhalten und „ein Stilleben zu schaffen, das lebt, nicht gemalt ist“. Darin liegt die Herausforderung DeLillos: schreibend über Bilder hinauszugehen, bis an die Grenze zum Ist-Zustand von Sprache. Manchmal erzeugt er damit spröde Andeutungen, eine Welt aus allzu viel „vielleicht“, „irgendwie“ und „oder auch nicht“, wie sie Frank Heibert sorgsam ins Deutsche übersetzt hat. Manchmal entstehen aber auch Sätze von einer Vollständigkeit, wie sie sonst nur Gertrude Stein beherrscht hat. Dann gibt es „ein paar Worte zu sagen, um ein paar Worte zu sagen“. Das ist allemal Grund genug für Literatur.

Don DeLillo: „Körperzeit“. Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2001, 140 Seiten, 29,90 DM

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