piwik no script img

Wider die entpolitisierte Politik

All das, was man unter dem deskriptiven und zugleich normativen Begriff der „Globalisierung“ fasst, ist keineswegs das Ergebnis zwangsläufiger ökonomischer Entwicklungen, sondern einer ausgeklügelten und bewusst ins Werk gesetzten, sich ihrer verheerenden Folgen allerdings kaum bewussten Politik (1). Diese Politik, die sich schamlos eines Vokabulars der Freiheit, des Liberalismus, der Liberalisierung, der Deregulierung bedient, ist in Wirklichkeit eine Politik der Entpolitisierung und zielt paradoxerweise darauf ab, die Kräfte der Ökonomie von all ihren Fesseln zu befreien, ihnen dadurch einen fatalen Einfluss einzuräumen und die Regierungen ebenso wie die Bürger den derart von ihren Fesseln „befreiten“ Gesetzen der Ökonomie zu unterwerfen. Es ist vor allem die in den Sitzungen der großen internationalen Organisationen wie der WTO oder der Europäischen Kommission und die innerhalb all der „Netzwerke“ multinationaler Unternehmen entwickelte Politik, die sich auf den verschiedensten Wegen – und das sind in erster Linie juristische – bei den liberalen oder gar sozialdemokratischen Regierungen einer ganzen Reihe von wirtschaftlich fortgeschrittenen Ländern durchgesetzt hat. Was dazu führte, dass diese Regierungen ihre frühere Kontrolle über die Kräfte der Ökonomie Schritt für Schritt aufgegeben haben.

Gegen diese Politik der Entpolitisierung gilt es nun, der Politik, dem politischen Denken und Handeln wieder ihren rechtmäßigen Platz einzuräumen und für dieses Handeln einen geeigneten Ansatzpunkt zu finden, der heute jenseits der Grenzen des Nationalstaats liegt, sowie die dazu erforderlichen Mittel, die sich nicht mehr auf die politischen und gewerkschaftlichen Kämpfe innerhalb des nationalstaatlichen Rahmens beschränken können. Für all jene, die den herrschenden Kräften des Marktes wirkungsvoll entgegentreten wollen, muss ein vernünftiges Ziel also zweifelsfrei darin bestehen, eine europaweite und vereinte soziale Bewegung aufzubauen, die im Stande ist, die unterschiedlichsten, gegenwärtig noch gespaltenen Bewegungen sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene zu sammeln.

So unterschiedlich diese sozialen Bewegungen auf Grund ihrer jeweiligen Ursprünge, Anliegen und Ziele auch sein mögen, besitzen sie doch eine ganze Reihe gemeinsamer Züge, die sie zu einer Art „Verwandten“ macht. Da viele von ihnen vor allem aus der Ablehnung traditioneller Formen der politischen Mobilisierung – insbesondere solcher Mobilisierungsformen, die in der Tradition der Parteien sowjetischen Typs stehen – hervorgegangen sind, ist diesen Bewegungen zuallererst eine ausgeprägte Abneigung gegen jedwede Monopolisierung durch kleine Minderheiten gemeinsam und sie beruhen im Gegenteil auf einer unmittelbaren Einbindung aller Mitwirkenden. Ein weiterer gemeinsamer Zug besteht darin, dass sie hinsichtlich der Ziele und Mittel originelle Aktionsformen mit stark symbolischem Gehalt erfinden. Sie richten sich auf genau bestimmte, greifbare und für das gesellschaftliche Leben bedeutsame Ziele (Wohnung, Arbeit, Gesundheit, die Belange der Sans Papiers usw.), für die sie praktische und direkt umsetzbare Lösungen anbieten; und sie achten darauf, dass ihre Vorschläge wie auch ihr Widerstand in exemplarischen Aktionen konkrete Formen annehmen, die direkt auf das jeweilige Problem bezogen sind und ein ausgeprägtes persönliches Engagement seitens der Beteiligten und Verantwortlichen erfordern. Letztere haben dank einer genauen Kenntnis der Funktionsweise der Medien zum Großteil eine Meisterschaft darin entwickelt, wie man ein Ereignis „produziert“, ein Anliegen dramatisiert, um dadurch den Blick der Medien – und über diesen Umweg auch den der Politik – darauf zu ziehen. Das bedeutet keineswegs, dass diese Bewegungen nur Artefakte sind, inszeniert von einer sich auf die Medien stützenden Minderheit. In Wirklichkeit ist ein realistischer Umgang mit den Medien mit einem Engagement verknüpft, das lange Zeit am Rande der „traditionellen“ Bewegungen, etwa der Parteien oder Gewerkschaften, geleistet wurde, manchmal gar von einer selbst wiederum marginalen Fraktion dieser Bewegungen unterstützt, und das bei bestimmten Gelegenheiten an Sichtbarkeit gewinnen konnte, was zumindest kurzfristig seine soziale Basis erweitert hat. Die bemerkenswerteste Tatsache ist jedoch darin zu sehen, dass diese neuen sozialen Bewegungen von Anfang an einen internationalen Charakter hatten, was teilweise einfach daran lag, dass sie sich gegenseitig zum Vorbild nahmen, teilweise aber auch, dass es, wie etwa im Fall der Wohnungskämpfe, zeitgleich in verschiedenen Ländern zur Erfindung ähnlicher Aktionsformen kam. Eine dritte Gemeinsamkeit: All diese Bewegungen lehnen die neoliberale Politik ab, die willfährig den Zielen der multinationalen Großunternehmen zur Durchsetzung verhilft. Und ein viertes gemeinsames Merkmal besteht schließlich darin, dass sie mehr oder weniger international und internationalistisch sind. Eine letzte Gemeinsamkeit besteht in ihrer solidarischen Haltung, die eine Art unausgesprochener Grundsatz der meisten ihrer Kämpfe bildet und die sie in ihren Aktionen wie auch durch die von ihnen gewählte Organisationsform umzusetzen bemüht sind.

Die Feststellung einer solchen Nähe hinsichtlich der Mittel und Ziele ihres politischen Kampfes erfordert eine Koordination der Forderungen und des Vorgehens, ohne dass damit irgendwelche Vereinnahmungsabsichten verbunden wären. Diese Koordination müsste die Form eines Netzwerks annehmen, in dem sich Einzelne und Gruppen zusammenschließen könnten, ohne dass irgendwer die Möglichkeit hätte, die anderen zu beherrschen oder einzuschränken, und in dem der gesamte Reichtum an unterschiedlichen Erfahrungen, Sichtweisen und Programmen gewahrt bliebe. Ihm käme vor allem die Aufgabe zu, die noch zersplittert agierenden sozialen Bewegungen aus ihren zeit- und ortsgebundenen Partikularismen zu reißen und ihnen vor allem dabei zu helfen, das Hin und Her zwischen Zeiten intensiver Mobilisierung und Zeiten einer latenten oder verlangsamten Existenz zu überwinden, ohne dabei bürokratischer Konzentration Raum zu geben.

Flexibel und nachhaltig zugleich müsste diese Organisation dann zwei verschiedene Vorhaben in Angriff nehmen: zum einen bei jeweils kurzfristig anberaumten und auf die jeweiligen Umstände bezogenen Treffen aufeinander abgestimmte und auf greifbare Ziele gerichtete Aktionen vorbereiten; zum anderen während regelmäßiger Zusammenkünfte der Vertreter aller betroffenen Gruppen allgemein bedeutsame Fragen zur Diskussion stellen und gemeinsam an langfristigen Zielsetzungen arbeiten. Es käme hier freilich darauf an, im Überschneidungsbereich der Betätigungsfelder der einzelnen Gruppen allgemeine Ziele auszumachen und zu entwickeln, bei deren Verwirklichung alle mitwirken und dazu ihre jeweiligen Möglichkeiten und Mittel beisteuern könnten. Man darf getrost hoffen, dass sich aus dieser demokratischen Begegnung einer Vielzahl von Menschen und Gruppen, die einige wesentliche Vorstellungen und Überzeugungen teilen, allmählich ein Bündel von kohärenten und sinnvollen Antworten auf jene grundlegenden Fragen ergibt, für die weder die Gewerkschaften noch die Parteien globale Lösungen anbieten können.

Eine europäische soziale Bewegung ist natürlich kaum denkbar ohne die Beteiligung einer reformierten Gewerkschaftsbewegung, vorausgesetzt allerdings, sie überwindet die äußeren und inneren Hürden, die ihrem Erstarken und ihrer Einigung auf europäischer Ebene im Wege stehen. Es ist nur dem Anschein nach paradox, den Niedergang der Gewerkschaftsbewegung für eine mittelbare und zeitlich verzögerte Folge ihres Triumphes zu halten. Viele Forderungen, die hinter den gewerkschaftlichen Kämpfen standen, sind zu Institutionen geworden, die nun, als sozialstaatliche Rechtsbestände, Stoff für Auseinandersetzungen zwischen den Gewerkschaften selbst bilden. Als parastaatliche, oft vom Staat selbst finanzierte Instanzen wirken die Gewerkschaftsbürokratien an der Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums mit, sie sichern durch die Vermeidung von Konfrontationen den sozialen Kompromiss. Es kommt immer wieder vor, dass die Verantwortlichen in den Gewerkschaftszentralen zu reinen Verwaltern mutieren, weit entfernt von den Sorgen und Nöten ihrer Mandanten. Dann kann es geschehen, dass sie die Logik der Konkurrenz zwischen den Apparaten oder innerhalb der Apparate dazu verführt, die eigenen Interessen eher zu verteidigen als die Interessen derer, die sie eigentlich vertreten sollten. Dies hat zu einem nicht geringen Teil dazu beigetragen, dass sich die Beschäftigten von den Gewerkschaften abgewandt haben und sogar den Gewerkschaftsmitgliedern eine aktive Mitgestaltung in der Organisation verleidet wurde.

Freilich können diese Entwicklungen im Innern alleine nicht erklären, dass wir es mit einer sinkenden Zahl von Gewerkschaftsmitgliedern zu tun haben, die noch dazu immer weniger aktiv sind. Die neoliberale Politik trägt auch hier ihren Teil zur Schwächung der Gewerkschaften bei. Die „Flexibilisierung“ und vor allem die Prekarisierung einer wachsenden Zahl von Beschäftigungsverhältnissen und der daraus sich ergebende Wandel der Arbeitsbedingungen und Arbeitsanforderungen bewirken, dass ein gemeinsames Vorgehen und selbst die einfache Informationsarbeit immer schwieriger werden, während die Reste der sozialen Sicherung einen Teil der Beschäftigten weiterhin schützen. Dies hält vor Augen, wie unerlässlich, aber auch schwierig eine Reform gewerkschaftlicher Arbeit ist, eine Reform, die eigentlich Ämterrotation und eine Infragestellung des Modells der uneingeschränkten Delegation ebenso voraussetzte wie die Erfindung neuartiger Techniken zur Mobilisierung der ungesicherten und randständigen Beschäftigten.

Die völlig neuartige Organisation, auf deren Schaffung es hier ankäme, müsste also im Stande sein, die Zersplitterung nach unterschiedlichen Zielen und nationalen Zugehörigkeiten sowie die Teilung in Gewerkschaften und „Bewegungen“ zu überwinden. Dabei müsste darauf geachtet werden, dass man der Gefahr der Monopolisierung entgeht, die über all diesen sozialen wie gewerkschaftlichen Bewegungen schwebt, aber auch der Erstarrung auf Grund einer beinahe schon neurotischen Furcht vor dieser Gefahr. Der Aufbau eines dichten und schlagkräftig arbeitenden internationalen Netzwerks von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen, die durch gegenseitigen Austausch in Konzertierungs- und Diskussionsforen, wie etwa den „Generalständen der europäischen Sozialbewegung“ (États généraux du mouvement social européen), neue Anstöße erhielten, würde ein mit bestimmten Forderungen auftretendes internationales Vorgehen möglich machen, das nichts mehr gemein hätte mit der Arbeit der offiziellen Institutionen, in denen manche Gewerkschaften ja vertreten sind (wie im Europäischen Gewerkschaftsbund).

Zur Überwindung der Spaltungen zwischen den sozialen Bewegungen ist eine Arbeit vonnöten, die sich auch auf die Überwindung einer weiteren, ebenso unheilvollen Spaltung richten muss, nämlich diejenige zwischen Wissenschaftlern und in den sozialen Bewegungen engagierten Menschen. Angesichts des gegenwärtigen Standes der ökonomischen und politischen Kräfteverhältnisse, der die Mächte der Ökonomie in die Lage versetzt, in einer noch nie dagewesenen Weise und in bisher unbekanntem Ausmaß wissenschaftliche, technische und kulturelle Ressourcen in ihren Dienst zu stellen, kommt der Forschungsarbeit größte Bedeutung zu, gerade um solche Strategien aufzudecken und auseinander zu nehmen, die von multinationalen Unternehmen und internationalen Organisationen erarbeitet und umgesetzt werden – Organisationen, die wie die WTO universell gültige Regeln beschließen und durchsetzen, durch die eine neoliberale Utopie allgemeiner Deregulierung zunehmend Wirklichkeit zu werden droht. Die gesellschaftlichen Hürden für einen solchen Schulterschluss zwischen Forschern und Aktivisten sind nicht weniger hoch als die, welche zwischen verschiedenen Bewegungen oder zwischen ihnen und den Gewerkschaften stehen. Dennoch ist dies eine der Voraussetzungen dafür, dass es zur kollektiven Erfindung eines durch die kritische Konfrontation der jeweiligen Erfahrungen und Kompetenzen aufeinander abgestimmten Bündels von Antworten kommen kann, die ihre politische Überzeugungskraft dem Umstand verdanken, dass sie zugleich systematisch sowie in gemeinsamen Wünschen und Überzeugungen verankert sind.

Den zugleich ökonomischen und intellektuellen Kräften und ihrer Armeen von Consultants, Experten und Juristen wird einzig und allein eine europäische soziale Bewegung etwas entgegensetzen können, die sich der in den unterschiedlichen Organisationen der verschiedensten Länder versammelten Kräfte sowie der bei Treffen wie den „Generalständen“ gemeinsam erarbeiteten Informations- und Kritikinstrumente versichern kann. Nur eine solche soziale Bewegung wird auch in der Lage sein, an die Stelle jener allein dem Gebot kurzfristiger Profitmaximierung gehorchenden und zynisch durchgesetzten Vorgaben die in wirtschaftlicher wie auch politischer Hinsicht demokratischen Ziele eines mit ausreichend politischen, juristischen und finanziellen Mitteln ausgestatteten europäischen Sozialstaats zu stellen, um der rohen und brutalen Kraft engstirniger ökonomischer Interessen Einhalt gebieten zu können.

Pierre Bourdieu

Stark gekürzter Auszug aus: Pierre Bourdieu, „Gegenfeuer 2“, UVK Konstanz, Reihe „Raisons d’agir“, Mai 2001. Aus dem Französischen übertragen von Andreas Pfeuffer

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen