: In Indien ist jede Zahl groß
Die ersten Ergebnisse der jüngsten Volkszählung geben Anlass zu vorsichtigem Optimismus: Die Bevölkerung wächst weniger schnell. Auch die Zahl der Analphabeten sinkt, aber noch immer können 356 Millionen Menschen nicht schreiben und lesen
aus Delhi BERNARD IMHASLY
Am 1. März 2001 lebten in Indien 1.027.015.247 Menschen. Das sind 181 Millionen mehr als vor zehn Jahren. Für die Demografen in der Nationalen Bevölkerungskommission, die wie alle Statistiker Zahlenjongleure sind, ist dies keine Niederlage im Kampf gegen die Bevölkerungsexplosion, sondern ein Erfolg. Denn zum ersten Mal, so ihre Interpretation der ersten Ergebnisse der Volkszählung vom Februar, lag das Wachstum um 2,5 Prozent unter jenem der vier Jahrzehnte davor. Das jährliche Wachstum fiel von 2,1 auf 1,9 Prozent.
Doch 181 Millionen bedeuten 50.000 Menschen mehr pro Tag. Vor allem aber verfehlt Indien das Klassenziel, das ihm die Bevölkerungsplaner vorgegeben hatten – ein Wachstum von 1,6 Prozent, also 14 Millionen Menschen.
Ähnlich optimistisch sind die vorläufigen Angaben, wenn es um das Geschlechterverhältnis geht. Die „Sex Ratio“ ist eine allgemein anerkannte demografische Größe, die Rückschlüsse auf den Status der Frau zulässt und damit einen wichtigen Faktor für die zukünftige Bevölkerungsentwicklung darstellt. Auf tausend Männer kommen 933 Frauen – vor zehn Jahren waren es nur 927 gewesen.
Was diese Statistik verschweigt, ist die Tatsache, dass Indien immer noch weit entfernt ist vom globalen Geschlechterverhältnis, das mehr Frauen als Männer ausweist und Resultat der höheren weiblichen Lebenserwartung ist. Indische Kritiker sprechen in diesem Zusammenhang von den „verschwundenen 70 Millionen Frauen“. Um diese Zahl bleibt Indien hinter der weltweiten Norm zurück. Das jüngste Resultat mag etwas besser aussehen als das von 1991, aber es ist schlechter als das vor hundert Jahren, als das Verhältnis 1.000 zu 972 betrug.
Noch nachdenklicher macht die Aufschlüsselung der Gesamtzahlen: Bei der Bevölkerungsgruppe der Kinder unter sechs Jahren etwa entwickelt sich das Geschlechterverhältnis in der Gegenrichtung: 1991 kamen auf 1.000 Jungen noch 945 Mädchen, nun sind es wieder nur 927. Und das Gefälle zwischen den Regionen ist weiterhin enorm. Kerala, Indiens fortschrittlichster Staat, weist auf 1.000 Männer 1.058 Frauen auf, besser als der internationale Standard. Haryana und Punjab dagegen haben 861 und 874 Frauen auf 1.000 Männer. Diese Zahlen zeigen auch, dass es nicht die ärmsten Staaten sind, die in diesem soziologischen Schlüsselindex schlecht abschneiden, sondern die beiden reichsten Agrarstaaten Indiens.
Demografen vermuten, dass sich hier die allindische Präferenz für den männlichen Stammhalter verbindet mit der weitverbreiteten illegalen Praxis der Geschlechterbestimmung während der Schwangerschaft mit Hilfe teurer Geräte – und deren logischer Folge, der Abtreibung. Die positive Korrelation zwischen negativem Geschlechterverhältnis und Wohlstand ist jedoch atypisch. Generell geht hohes Bevölkerungswachstum einher mit geringer Bildung und großer Armut. Die jüngsten Zahlen zeigen dabei einen überaus deutlichen regionalen Trend: In den südlichen Bundesstaaten verbindet sich der starke Rückgang bei der Bevölkerung mit einer hohen Einschulungsrate und einem weit besseren Wirtschaftswachstum. Während die Bevölkerung Keralas in den letzten zehn Jahren um 9 Prozent zunahm, stieg jene von Uttar Pradesh im Norden, Indiens größtem Staat, um 26 Prozent auf 166 Millionen Menschen.
Dieser Trend ist auch politisch brisant. Es lässt sich voraussehen, dass die vier südlichen Staaten in 25 Jahren ein doppelt so hohes Pro-Kopf-Einkommen haben werden wie der Norden und Osten des Landes. Dennoch wird dieser sein politisches Gewicht vergrößern, indem er mehr Abgeordnete nach Delhi schicken wird. Dies wird, so fürchten aufgeklärte Politiker, das Verhältnis zwischen Norden und Süden bis zum Zerreißen spannen. Denn wer will schon dafür bestraft werden, dass er eine erfolgreiche Bevölkerungspolitik verfolgt?
Wenn man den jüngsten Zensusbericht liest, besteht allerdings die Hoffnung, dass es nicht so weit kommen wird. Die Fähigkeit, „einen einfachen Brief zu lesen und zu schreiben“ stieg seit 1991 um 13 auf 65 Prozent der Bevölkerung, mehr als in den vier Jahrzehnten zuvor. Zum ersten Mal seit 1951 ist die Zahl der Analphabeten nicht nur in relativen, sondern auch in absoluten Zahlen gefallen (um 32 Millionen). Selbst Kritiker geben zu, dass die Zunahme der Alphabetisierungsrate auf 65 Prozent ein echter Fortschritt ist.
Wie in jeder Statistik ließe sich auch hier die Kehrseite hervorstreichen und mit dem Gesetz der großen Zahl dramatisch zeigen, wie weit der Weg noch ist. Zwei Drittel der Inder mögen lesen und schreiben können. Doch für 356 Millionen Menschen sind Schriftzeichen weiterhin ein rätselhaftes Stück Kalligrafie.
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