: Rendezvous mit dem Wahnsinn
■ Warum Radio Bremen überlebensnotwendig ist: Weil es geniale Hörspiele produziert, zum Beispiel eine Rekonstruktion des unvollendeten Lilienthalromans des göttlichen Arno Schmidt
„Ich saufe schwer. Und beginne ,Lilienthal'. Ich Armer.“ Über „Armut“, wird im 82-minütigen Hörspiel „Lilienthal 1801 oder die Astronomen“ noch verdammt oft die Rede sein. Vor allem in Arno Schmidts Korrespondenz mit Verleger Ernst Grawel. Dieses ewige Schachern um den lebensnotwendigen Vorschuss: Genau wie bei Uwe Johnson wurden bei Arno Schmidt literarische Großprojekte immer wieder gefährdet (und tatsächlich verhindert) durch das leidige Thema Geld.
Schon 1956 plante er „irgendwas“ über den Astronomen Johannes Hieronymus Schroeter, dessen wunderbar-klitzekleine Sternwarte in Lilienthal noch heute für zwei Mark besichtigt werden kann. „60-80 Seiten“ veranschlagte Arno Schmidt. Aber wie ergeht es wohl einem Literaten, der tagelang recherchiert, ob man Schroeter mit „ö“ oder „oe“, schreibt, der sich Pläne der Straßenführung um die Lilienthaler Kirche besorgt, „in den Kirchenbüchern stöbert“ und noch aus dem letzten Wurm eine ausufernde Wissenschaft macht? Irgendwann entdeckt so einer, dass es nach Lilienthal auch eine deutschstämmige Französin verschlagen hat, „verrückt durch ihre Erlebnisse“ in der französischen Revolution, wo Marat sie als „Göttin der Vernunft“ auftreten ließ. Da stellen sich natürlich für einen Schmidt sofort tausenderlei Fragen zur Revolution: Wie war das Wetter an bestimmten Tagen? Wie die Kartoffelernte? Und flugs weitet sich das Kaff Lilienthal aus zu einem unergründlichen Kosmos, der mit allen wichtigen Weltfragen verbandelt ist, genau wie der See Stechlin bei Fontane.
So kommt es, dass Arno Schmidt etwa 20 Jahre nach Recherchebeginn in einem Interview im „Spiegel“ vollkommen verzweifelt (und vollkommen euphorisch) meinte, „die mörderische Arbeit“ mit dem Lilienthal-Roman würde ihn wohl „10 bis 12 Jahre“ seines Lebens kosten. Und das obwohl es nur um zwei Tage im Jahr 1801 gehen sollte. Und der Text sollte auf 1.500 Seiten anschwellen – also ein bisschen umfangreicher als das definitive Ultramonster des 20. Jahrhunderts, „Zettels Traum“. Und vier synchron zu lesende Spalten sollte es haben, frei nach Musils parallel existierenden Möglichkeitswelten, weil sich die „nie dagewesene zierliche Verschlungenheit“ um vier Hauptpersonen ranken sollte: „Alle vier lesen. Aber was? Alle verteidigen ihren Vogel.“ Und „jeder verkennt die Daten des anderen.“
Geld war nicht da. Lebenszeit auch nicht (Schmidt starb 1979). So gibt es statt 1.500 Seiten genau zwei. Und Tagebucheintragungen, Briefe. Und viele Zettel, natürlich. Davon kritzelte er nachts im Halbsuff „zehn voll, von denen ich morgens noch fünf lesen konnte“. Daraus komponierten Bernd Rauschenbach und Jan Philipp Reemtsma (Förderer und Vorstand der Arno-Schmidt-Stiftung) ein dicht verzwurbeltes Flechtwerk aus Schmidt-Biografie und Lilienthal-Roman, darin enthalten natürlich Dutzende Schmidt'sche Metaphern-Ungetüme: „das Drachenfleisch der weiblichen Hand“, „wankend nach Worten – kinnladig“, „der rosagewölbte Nasenspitzenkopf“. „Wasser wischelt.“ „Ihr Gesicht verfetzt sich.“
Um Authentizität konnte es den Hörspielautoren nicht gehen, da bei Schmidt „der Abstand zwischen Konzept und tatsächlich realisiertem Text immer beträchtlich“ war. Irgendwann fand er seinen Frieden mit den vielen unrealisierten Projekten, da er „seinen Teil an Unfug in der Literatur schon gestiftet“ hat. Außerdem ist sowieso der Umgang mit „mir wie ein Rendevous mit dem Wahnsinn“. bk
Radio Bremen 2, am Sonntag, 22. April, 17.05-18.30 Uhr. Ab Herbst auf CD erwerbbar
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