: Tagebuch aus Sierra Leone
Platz 3
Der Krieg hat uns von Osten nach Westen überrollt. Einen Fluchtweg nach Westen gibt es nicht. Aber auch wenn es ihn gäbe, ich kann nicht weggehen . . .
Letztes Wochenende, als ich erfuhr, dass es immer mehr Verletzte gab, habe ich mich im Connaught Hospital gemeldet. Ärzte ohne Grenzen haben einen Chirurgen und zwei Anästhesie-schwestern dort seit sechs Monaten stationiert. Sie arbeiten in einem „Emergency Surgery“-Programm. Als mit fortschreitenden Kriegshandlungen immer weniger einheimische Ärzte zur Arbeit kamen, waren sie froh um die Unterstützung.
Dabei war ich vor einigen Wochen nach Sierra Leone gekommen, um zusammen mit dem Komitee Cap Anamur, einem Kollegen aus den Niederlanden und einem Mitarbeiter aus Sierra Leone das Kinderkrankenhaus in Freetown wieder in Betrieb zu nehmen und den Menschen Service anzubieten. Aber das politische Klima schlug um, und statt der Aufbauarbeit sehen wir uns dem Bombardement von Freetown ausgesetzt.
Ab Mittwoch bekommen wir etwa 120 Verletzte täglich, davon ein Viertel schwer verletzt, ins Krankenhaus. Wir arbeiten in zwei Teams. Igor, der Chirurg, rekonstruktiv (große Bauchchirurgie, Darmnähte etc.) und ich destruktiv. Unser Team entfernt vom Augapfel bis zum großen Zeh alles, was nicht mehr zum Leben fähig oder nötig ist. Zahlenmäßig behandelt unser Team natürlich viel mehr Patienten. Destruktiv ist eben schneller. Das ist das Schlimmste.
Die Frontlinie verläuft direkt vor dem Krankenhaus, und das Feuergefecht ist so heftig, dass wir eine Zwangspause von 1,5 Stunden einlegen müssen. Die Einschläge lassen die Wände erzittern. Wir kauern unter dem OP-Tisch und hoffen, dass die alte, schwere OP-Lampe nicht herunterfällt ins OP-Feld.
An diesem Tag müssen wir streng selektieren – Triage, Ausschuss. Ich kannte den Begriff in seiner ganzen Bedeutung bis dahin nicht. Gott sei Dank ist Igor dafür zuständig. Als die Patienten bzw. Verwandten mitbekommen, dass wir Fälle streng nach Überlebenschancen aussuchen, spielen sich herzzerreißende Szenen ab.
Eine junge Frau wird gebracht, der eine Granate beide Beine am Oberschenkel weggerissen hat. Sie liegt im Korridor und das Blut sickert durch den Verband. Wie kann sie die Operation und die Zeit danach überleben? Es gibt keine Bluttransfusionen, kaum noch Verbandsmaterial. Und wie wird ihr Leben später aussehen? Es sind so viele Verletzte da, andere mit besseren Überlebenschancen. Sie liegt im Korridor, und nach einiger Zeit fällt sie durch den Blutverlust ins Koma und stirbt. Wir weinen mit den Angehörigen um die junge Frau, und auch um uns, dass wir gezwungen sind, so zu handeln. Ich denke an meine Familie in Berlin, die angespannt die Presse und die Meldungen im BBC verfolgt. Ich möchte mich noch einmal verabschieden können. Auch ein junger Lehrer wird gebracht, mit einem Halsdurchschuss. Die Wirbelsäule ist zerfetzt, er ist vom Hals abwärts gelähmt. „Doktor, ich werde doch wieder gesund?“, fragt er. Er muss die Antwort in meinem Gesicht gesehen haben. Er schließt die Augen und stirbt. Den Satz, den ich am meisten hasse, ist „Doctor, I beg you!“
Freitagmorgen um zwei Uhr müssen wir einfach aufhören. Nach 17 Stunden im OP sind wir alle erschöpft. Wir haben in den letzten Tagen nur Erdnüsse und Wasser zu uns genommen. Der Strom der Verletzten hält weiter an. Viele Menschen sterben in den Korridoren. Samstag gegen zwei Uhr morgens geht der Diesel für den Generator aus. Wir legen uns mit etwas ruhigerem Gewissen schlafen. Soweit ich weiß, sind Igor und ich die einzigen Ärzte, die in Freetown noch arbeiten und natürlich die französischen und sierraleonischen Schwestern und Mitarbeiter, die geblieben sind. Viele sind zu ihren Familien gegangen, um sie in den Kriegswirren nicht zu verlieren.
Samstag ist etwas ruhiger. „Nur“ 51 Verletzte. Die Front bröckelt und zieht immer weiter nach Westen. Wir hören jetzt nur sporadisch entfernte Artillerie-gefechte. Es gibt kein Verbandsmaterial, keine Medikamente mehr. Wir müssen unbedingt den Container mit Material für das Kinderkrankenhaus aus Conakry holen. Der Transport kann nur von dort aus organisiert werden. Aber die Straßen sind immer noch nicht sicher, die Grenzen sind alle geschlossen. Wir können mit einem kleinen Boot des Internationalen Roten Kreuzes über das Meer nach Conakry fahren. Unterwegs zoomen immer wieder Militärmaschinen heran und drehen wieder ab, wenn sie das rote Kreuz auf dem Dach sehen.
PHILIP DE ALMEIDA
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen