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Nervös, nicht politisch

Die Neue Nationalgalerie zeigt Ernst Ludwig Kirchners Bild „Der Potsdamer Platz“ jetzt im Rahmen einer Ausstellung über den „Untergang Preußens“

Preußen, das Bürgertum, der Kapitalismus, dies alles ist Kirchner egal

von CHRISTIAN SAEHRENDT

Als Meisterwerk des Expressionismus kehrt „Der Potsdamer Platz“ von Ernst Ludwig Kirchner an den Ort seiner Entstehung zurück. Der Erwerb des Gemäldes für die Neue Nationalgalerie wurde durch eine konzertierte Anstrengung von Bund, Land, Kulturstiftung der Länder und weiterer Mäzene ermöglicht. Parallel hat der Kustos Roland März mit „Der Potsdamer Platz. Ernst Ludwig Kirchner und der Untergang Preußens“ einen „Ausstellungsessay“ rund um das Hauptwerk inszeniert, in dem sich städtische Sozialgeschichte, Rekonstruktion des Lebensgefühls des Wilhelminismus und klassische Kunstgeschichte miteinander verbinden.

Dabei knüpft der Ausstellungstitel an die Feierlichkeiten des Preußenjahrs an: Besonders der Bereich „Apokalypse und Krieg“ stellt den Link zwischen künstlerischem Avantgardismus und dem teils ersehnten, teils gefürchteten Zusammenbruch der bürgerlichen Ordnung her. Aber trug Kirchner wirklich etwas zum Untergang Preußens bei? Waren seine Kunst und sein Leben Sargnägel für den Wilhelminismus, für Monarchie und Junkertum?

Preußen ging bekanntlich erst durch alliierte Beschlüsse nach 1945 unter, doch der Niedergang begann im November 1918. Der verlorene Krieg erschütterte die Gesellschaft: Viele expressionistische Künstler wie Max Pechstein oder Ludwig Meidner politisierten sich in den fiebrigen Monaten der Revolution und engagierten sich für Republik und soziale Gerechtigkeit. Doch Kirchner enthielt sich des politischen Aktionismus. Seine umfangreichen Briefwechsel mit Freunden, Sammlern, Verlegern und Museumsleuten zeigen noch heute einen Menschen, der vom Strudel der Ereignisse überwältigt und mitgerissen wurde. Geistig der kaiserzeitlichen Jugend- und Lebensreformbewegung verbunden, künstlerisch einem ethnografischen Exotismus verfallen, ist Kirchner nicht der Mann, der sich politisch organisiert, Künstlerkollektive bildet und revolutionäre Losungen proklamiert. Die Zeit der Künstlergruppe „Brücke“ hat ihn ernüchtert. Er sucht seinen Weg ab 1913 allein.

Fotografien aus der Vorkriegszeit zeigen sein Berliner Atelier als höhlenartigen Raum, in dem jedes Detail gestaltet ist, eine Insel der Boheme, auf der sich Kirchner, seine Frau Erna, Besucher, Artisten und Modelle tummeln. Kirchner lebte relativ isoliert. Er arbeitet intensiv, skizziert bis in die Nacht in den Cafés und verbraucht immer größere Mengen stimulierender Substanzen. Als Zeugnis dieses Lebenswandel entsteht das großartige „Selbstportrait als Trinker“.

Mit Kriegsbeginn muss Kirchner seine Insel der Boheme verlassen. Er ist zunächst durchaus stolz auf seine neue soldatische Existenz, bekommt aber im Laufe der Ausbildung Angst vor dem Fronteinsatz. Sein Drogenkonsum, seine Schlaflosigkeit und körperliche Auszehrung verstärken sich während der Dienstzeit dramatisch. Nach nur drei Monaten Ausbildungszeit wird er entlassen.

Wenig später, vor allem während der Aufenthalte in verschiedenen Sanatorien 1916/1917, äußert sich Kirchner in Briefen über seinen Zustand, er verwendet Beschreibungen und Begriffe wie „nervenkrank“ und „Nervenkrise“. Durch Drogenkonsum und Hungerkuren hatte sich Kirchner selbst zum Patienten gemacht. Die tabuisierte Angst vor dem Fronteinsatz konnte sich nur in Form „objektiver“ Krankheiten von Körper und Nervensystem artikulieren. Auf diese Weise bot das Krankheitsbild der Neurasthenie, das in der Vorkriegszeit im Deutschen Reich zum anerkannten Leiden avanciert war, einen Ausweg – „Kriegshysteriker“ schickte das deutsche Heer ungern an die Front, da man Nervosität für ansteckend hielt. Kirchner wählte diesen Ausweg.

Nach mehreren Aufenthalten in verschiedenen Sanatorien konnte Kirchner 1917 einen Kuraufenthalt im schweizerischen Davos antreten. Dort, wo er vor dem Fronteinsatz etwas sicherer war, besserte sich sein Zustand bis 1920. Er wird bis zum Lebensende in Davos bleiben, doch sein Interesse und seine Erinnerungen an Berlin werden ihn zeitlebens begleiten. Obwohl der Krieg und die Politik der Nachkriegszeit durchaus ihren Niederschlag in seinen Briefen finden, bleiben Kirchners Werk und Lebenswandel bewusst politikfern. Die Straßenbilder der Vorkriegszeit mit ihren paradiesvogelartigen Prostituierten, stereotypen Freiern und der grell ausgeleuchteten, theaterkulissenhaften Architektur sind ohne jede Spur von Gesellschaftskritik. Preußen, die bürgerliche Gesellschaft, der Kapitalismus, dies alles ist Kirchner egal. Erst später, als er an den politischen Diskursen der Weimarer Republik antizipiert, nimmt er die Jahre vor 1914 kritischer wahr. Er saugt den Zeitgeist der Weimarer Republik auf, spricht sich gegen Militarismus und Krieg aus, propagiert eine emanzipierte „Kameradschaftsehe“ und internationale Verständigungspolitik. Gleichzeitig besteht er auf einem kulturell definierten Deutschtum und fühlt sich als stolzer Mensch preußisch-hugenottischer Abstammung. Kirchner wandelt sich unter den Ereignissen der Nachkriegszeit vom wilhelminisch geprägten Bürger-Bohemien zum etablierten und modernen Künstler der Weimarer Republik. Ein politischer Revolutionär war er nie.

Der Autor war an Recherchen für den Ausstellungsteil „100 Jahre Potsdamer Platz“ beteiligt.„Der Potsdamer Platz. Ernst Ludwig Kirchner und der Untergang Preußens“. Neue Nationalgalerie Berlin, Eröffnung: Freitag, 27. April (bis 12. 8.);Katalog, 320 Seiten, 39 DM

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