: Mehr Arme, mehr Reiche
In den letzten 25 Jahren hat sich die Kluft zwischen Arm und Reich vertieft. Hauptgrund der Armut: Mangel an Arbeit
von NICOLE MASCHLER
Zuweilen ist auch ein Minister lernfähig. Er habe gelernt, sagte Bundesarbeitsminister Walter Riester gestern bei der Präsentation des ersten „Armuts- und Reichtumsberichts“, dass Reichtum sich nicht auf das Vermögen und die Höhe des Einkommens reduzieren lasse. Vielmehr müsse stets die gesamte Lebenslage berücksichtigt werden. Tatsächlich geht der unter Federführung des Arbeitsministeriums erstellte Experten-Bericht von einem „pluralistischen Armutsbegriff“ aus und nimmt die Wohnsituation ebenso in den Blick wie Gesundheitsversorgung oder Ausbildung.
An der Grundaussage des Berichtes ändert dies nichts: Die Kluft zwischen Arm und Reich hat in der Bundesrepublik seit 1973 zugenommen. Gab es 1973 217.000 Vermögensmillionäre, waren es 1998, dem Jahr der Datenerhebung für den Bericht, 1,5 Millionen. Dagegen leben 2,88 Millionen Menschen von Sozialhilfe, etwa ein Fünftel der Bevölkerung zählt zu den Geringverdienern. Ein Zehntel der westdeutschen Haushalte verfügte über 42 Prozent des Privatvermögens, während sich 50 Prozent der Bundesbürger mit einem Anteil von 4,5 Prozent begnügen mussten.
Der Regierung dürfte der Bericht ungelegen kommen. Gerade hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Pflegeurteil eine neue Familienpolitik angemahnt. Und das zu einem Zeitpunkt, da die Union das Thema für sich entdeckt hat. Es sei an der Zeit, dass Familien „umfassend und berechenbar staatlich gefördert werden“. Die CDU will das Kindergeld daher statt auf 300 Mark auf 600 Mark anheben und fordert ein monatliches Familiengeld von 1.200 Mark. Zu teuer, entgegnet der Kanzler.
Doch nun bestätigt der Bericht den Handlungsbedarf: Am stärksten vom Armutsrisiko bedroht sind allein erziehende Frauen und kinderreiche Familien. Fast jede dritte Alleinerziehende benötigt Hilfe für den Lebensunterhalt. Die Sozialhilfequote bei Kindern hat sich im früheren Bundesgebiet seit 1982 mehr als verdreifacht. Jeder 15. Deutsche unter 18 Jahren erhält Sozialhilfe. Und: Allein erziehende Frauen haben kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt, weil nicht für die Kinderbetreuung gesorgt ist. Noch streitet Familienministerin Christine Bergmann mit den Ländern um die Finanzierung.
Doch der Bericht zeigt noch etwas anderes: Es liegt eben nicht an der mangelnden Initiative der Betroffenen, wenn diese keinen Job finden und Sozialleistungen in Anspruch nehmen. Schröders „Drückeberger“-Vorwurf und die CDU-Forderung nach Leistungskürzungen gehen ins Leere.
Und hier sind denn auch die politischen Implikationen des Berichtes zu sehen. Denn die derzeitige Diskussion um den Umbau des Sozialstaates setzt einseitig auf den Abbau von Leistungen. Noch im Bundestagswahlkampf 1994 hatten die Grünen zwar erklärt, das Aufkommen aus der Erbschaftssteuer verdreifachen zu wollen. Davon ist längst keine Rede mehr. Inzwischen sinken die Einnahmen aus der Erbschaftssteuer, obwohl immer mehr vererbt wird.
Der Armutsbericht müsse zu einer raschen Politik der Umverteilung führen, forderte gestern DGB-Chef Dieter Schulte und regte eine Beteiligung der Arbeitnehmer am „Produktivvermögen“, sprich Beteiligungsaktien, an. Allein den 4,3 Millionen Arbeitslosen im Land dürfte damit kaum geholfen sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen