Reisebericht Indien Nov. 2011: (Öko)Tourismus in Kerala

Imperessionen von Christian Wahnschaffe, Teilnehmer der taz-Reise nach Kerala im November 2011.

In den Backwaters hinter der Küste Keralas Bild: Rainer Hoerig

Es ist halb acht Uhr morgens. Der Himmel über dem Peryiar-Stausee ist unter einer geschlossenen Wolkendecke verborgen. Heute Nachmittag wird es hier oben, in etwa 1000m Höhe Nebel und Nieselregen geben.

Über einen Arm des Sees gleitet ein Floß, das uns zum Ausgangspunkt einer etwa dreistündigen Wanderung durch den Dschungel im Nationalpark bringt. Unsere Unterschenkel stecken in Säcken zum Schutz gegen Blutegel, die es hier im Wald zu tausenden gibt und die nur darauf warten, ihren Durst an unserem Blut zu stillen.

In Kleingruppen aufgeteilt und jeweils von einem Adivasi (so die Sammelbezeichnung für die aus vielen Einzelpopulationen bestehendenUreinwohner) begleitet, begeben sich die Teilnehmer unserer Reisegruppe in den dichten Wald. Pflanzen werden erklärt, Vogelstimmen zugeordnet. Immer wieder verhält die Gruppe an einem Aussichtspunkt. Große Tiere? Fehlanzeige! Aber, scheinbar unberührte Natur, satt!

Inzwischen ist die Sonne durchgebrochen. Am diesseitigen Ufer des Sees kommen jetzt die zwei Ausflugsschiffe an, mit denen einige hundert, vorwiegend indische, Touristen auf den See hinausgefahren sind, um Tiere am Ufer und Wasservögel zu beobachten. Ob sie etwas gesehen haben? Als wir selbst diese Tour am folgenden Morgen mitmachen – sorgfältig in Schwimmwesten gehüllt (Inder können angeblich meistens nicht schwimmen, und es hat vor Jahren schon einmal einen Unfall mit Ertrunkenen gegeben) – treffen wir lediglich einen jungen Elefanten am Ufer, der sich durch die Ausflügler nicht stören lasst.

Im Periyar-Nationalpark: ein junger Elefant beim Frühstück Bild: Christian Wahnschaffe

Szenenwechsel: Eine Woche später und rund dreihundert Kilometer weiter nördlich. Heute mussten wir besonders früh aufstehen und noch im Dunkeln mit unserem Bus zum Wayanad Wildlife Sanctuary an der Grenze zum Bundesstaat Karnataka aufbrechen. Für ein paar Minuten sind wir sogar in den Bereich der Grenzabfertigung geraten (hier fotografierteine Gruppenteilnehmerin gnadenlos pinkelnde Männer, die offensichtlich keinen geeigneteren Ort, sich zu erleichtern finden, als den Straßentand).

Dann stehen wir am Eingang des Wildparks und erleben eine besondere Überraschung: Es war uns schon angekündigt worden, dass wir heute mit einem Jeep zur Wildbeobachtung fahren würden. Nicht aber, dass wir zu neunt (inklusive Fahrer und Guide) in einen viel zu kleinen und niedrigen Jeep eingepfercht in einer Kolonne mit siebzig gleichartigen Fahrzeugen durch den Wald brausen und nur wenige Kleinhirsche sehen würden, die das Spektakel der morgendlichen Jeepkawalkade nicht davon abhält, wenige Meter abseits der Wege zu frühstücken. Tags zuvor sind wir, wieder mit ganz vielen anderen Menschen (hauptsächlich indischen Schulklassen) zu einem Wasserfall „geströmt“…

Ohne Zweifel: Die indische Regierung oder die des Staates Kerala (wer auch immer dafür zuständig ist) bemüht sich in einigen Waldgebieten, besonders in dem südwestlichsten Bundesstaat (Größe etwa von Baden-Württemberg, nur schmaler und langgezogener) um Natur-, Landschafts- und Wildschutz. Sie tut dies sicher auch, um den Tourismus und damit eine immer wichtiger werdende Einnahmequelle zu fördern.

In den Tiefen der Wildparks leben einige der wenigen noch nicht ausgestorbenen Tiger, und die sind ein wertvolles Gut. Immerhin werden die Touristenströme so kanalisiert, dass Tiere und Pflanzen weit weg von den Eingängen der Parks in Ruhe gedeihen können. Durch diese Kanalisierung muss es zwangsläufig zu Auswüchsen des Massentourismus kommen, wie wir sie auf unserer Reise erleben.

open-air-Seminar der NGO Kabani in Wayanad Bild: Kabani

Um einen sanften Tourismus bemüht sich im Distrikt Wayanad z. B. die Organisation „Kabani“. Auf dem letzten Höhepunkt unserer Reise sind wir in einem sogenannten „home-stay“ im Dorf Uravu, zwölf Kilometer von der Kreisstadt Kalpetta entfernt, bei Familien untergebracht, die jeweils ein bis zwei Zimmer für Gäste ausgebaut haben und dort einen eher bescheidenen Komfort durch herzliche Gastfreundschaft ausgleichen.

Daniel, unser Hausherr (zugleich kundiger und fürsorglicher Begleiter auf interessanten Fußwanderungen in die Umgebung) verdient seinen Lebensunterhalt damit, dass er auf Hochzeiten fotografiert. Reina, seine Frau, eine vielseitige und engagierte Köchin, die uns jeden Abend mit einem anderen Essen verwöhnt, leitet den kleinen Dorfkindergarten. Die siebzehnjährige Tochter und der dreizehnjährige Sohn (Fußballfan, der auch deutsche Spieler kennt und bewundert) besuchen das Gymnasium und sprechen ein leidlich verständliches Englisch.

Daniel weist uns auf die Vorteile und den Nutzen des schnellwachsenden Bambus hin und führt uns in eine kleine von „Kabani“ geförderte Fabrik, in der Menschen aus der Umgebung Souvenirs aus diesem Material herstellen und damit ein Auskommen haben.

In einem Gespräch mit den „Kabani“-Leuten erfahren wir einiges über die Probleme in Landwirtschaft ( hier vor allem Suizide von Bauern, die ihren Grund durch Verschuldung verloren haben) und Tourismus in Kerala und werden selbst um Anregungen gebeten. Leider fehlen bei diesem Gespräch die Frauen unserer Gastgeber, ihre Anwesenheit wird von den ansonsten sehr offenen Männern nicht für notwendig gehalten.

In der Tanzschule Kerala Kalamandalam nahe Thrissur Bild: Rainer Hoerig

Ist Kerala anders? – Zu Politik und Religion in einem indischen Teilstaat

Auf dem Weg ins Wayanad sehen wir am Wegesrand eine kleine Kirche und davor ein riesiges Bild eines sitzenden Christus, für meine Wahrnehmung eine recht kitschige Darstellung.

Später halten wir an der weißen Kirche und der Schule einer christlichen Denomination (auf den Evangelisten Thomas zurückgehende Jakobitisch-Syrische Christen). Die Kinder haben gerade Pause und umschwärmen die Reisegruppe. Alle tragen die gleiche Schuluniform. Der hinzutretende Manager der Schule (er übt dieses Amt für einige Zeit neben seinem Beruf ehrenamtlich aus) erläutert uns, dass diese Kinder unterschiedlichen (auch nichtchristlichen) Glaubens- und Religionsgemeinschaften angehören. Das einzige Kriterium, das sie an dieser Schule zusammenführt, besteht darin, dass ihre Eltern das Schulgeld bezahlen können.

Am zweiten Tag unserer Reise können wir in Varkala Beach einen Hindutempel besichtigen und dort nach Herzenslust fotografieren. Auch am Tempelfest in Vaykom können wir ohne Schwierigkeiten teilnehmen, wir müssen nur unsere Schuhe ausziehen, als wir die weiträumige Tempelanlage durch eines der vier in jeder Himmelsrichtung liegenden Tore betreten. Später in Thrissur und in anderen Orten im Norden Keralas treffen wir auf Tempel, zu denen nur Hindus in vorgeschriebener Kleidung Zugang haben. In Thrissur dürfen wir immerhin die außerhalb des eigentlichen Tempels „wohnenden“ Elefanten besuchen.

Tempelfest in Vaykom, Kerala Bild: Rainer Hoerig

Auf einem Ausflug nach Vadakara im Norden des Distrikts Kozhikode kommen wir durch überwiegend muslimisch geprägte Dörfer und Städte und speisen mittags ausgezeichnet in einem arabischen Restaurant.

Mehrmals begegnen wir kommunistischen Demonstrationen, die mit Lautsprecherwagen und roten Fahnen mit Hammer und Sichel auf sich aufmerksam machen. Am Straßenrand finden sich Bilder von Che Guevara und Saddam Hussein, die offensichtlich Verehrung genießen.

Natürlich wäre es vermessen, zu behaupten, nach einer Reise von zweieinhalb Wochen Dauer nach Kerala umfassend über die politischen und religiösen Verhältnisse dort informiert zu sein. Mein Wissen zu diesen Themen gründet auf Gesprächen und Beobachtungen. Gespräche zum Beispiel mit dem Dichter Paul Zacharia, Vertretern der um Bildung bemühten NGO Kerala Sasthri Sahitya Parishad und mit unseren (christlichen) Gastgebern im Wayanad. Beobachtungen und Erfahrungen an vielen Stationen unserer Reise.

Kerala ist einer der kleineren indischen Bundesstaaten. Anders als bei uns in Deutschland, selbst in Teilen der EU, gibt es zwischen den einzelnen Bundesstaaten Grenzen, an denen zumindest Zollabfertigung stattfindet, wie wir an der Grenze zum Nachbarstaat im Nordosten, Karnataka, feststellen können. Anders als in Deutschland gibt es in Indien keine Interessenvertretung (vergleichbar mit dem Bundesrat) der Teilstaaten gegenüber der Zentraslregierung

Der goldene Tempel in Trivandrum Bild: Rainer Hoerig

Auf einer Fläche von der Größe Baden-Württembergs leben in Kerala, etwa 32 Millionen Menschen. Zu den Besonderheiten dieses Bundesstaates gehört es, dass hier etwa gleich viele Hindus, Muslime und Christen leben und dass die Angehörigen dieser drei Religionen sich offensichtlich gut vertragen, und dass es keine religiös motivierten Auseinandersetzungen gibt, wie in anderen Staaten des indischen Subkontinents.

Seit der Lektüre des Buches „Der Gott der kleinen Dinge“ von Arundathi Roy wissen wir, dass Kommunisten in Kerala schon lange eine bedeutende Rolle in der Landes- und auch Lokalpolitik spielen. Auf unserer Reise erfahren wir, dass die Keraliten jeweils alle fünf Jahre einen politischen Führungswechsel herbeiführen und abwechselnd eine Parlamentsmehrheit der Kongresspartei und der Kommunisten und damit eine entsprechende Regierung wählen.

Zwar gelten ihnen die Kommunisten genauso anfällig für Korruptionwie die Angehörigen anderer Parteien, immerhin haben erstere jedoch dafür gesorgt, dass es bei der Landverteilung einigermaßen gerecht zugeht, dass im Prinzip jeder das Land bekommen hat, das er zu seiner Ernährung benötigt, und dass es keine großen Latifundien gibt. Dass es dennoch immer wieder, gerade unter den Bauern, zu Suiziden kommt, hat damit zu tun, dass diese sich beim Erwerb von Saatgut verschulden, schließlich ihr Land an die Gläubiger geben müssen und auf diese Weise ihre Lebensgrundlage verlieren und ihre Familien nicht mehr ernähren können.

Kathakali-Tanzdrama Bild: a+e erlebnisreisen

Der Bildungsstand, zumindest der Grad der Alphabetisierung, ist in Kerala besonders hoch und liegt weit über dem in anderen indischen Bundesstaaten. Daran hat die oben erwähnte Bildungsorganisationeinen großen Anteil, in der sich 40 000 Menschen ehrenamtlich engagieren, das heißt, auch mit ihrem Geld und, wie die Repräsentanten der Organisation uns versicherten, ohne öffentliche Zuschüsse auskommen. Es gibt diese Organisation jetzt seit etwa 40 Jahren.

Das politische Bewusstsein und die Bereitschaft, für die eigenen Interessen einzutreten, scheint in Kerala ausgeprägt zu sein. So erleben wir am letzten Tag unseres Aufenthaltes einen Streik der Einzelhändler, die auf diese Weise an die indische Zentralregierung appellieren, von dem Plan, europäische und amerikanische Supermarktketten ins Land zu lassen und damit die Existenzvieler Kleinhändler zu gefährden, Abstand zu nehmen.

Dieser Reisebericht erschien in zwei Teilen in der Internetzeitung LeineBlick.de: Teil 1 und Teil 2.

Hinweis: die aktuelle taz-Reise nach Kerala hat eine leicht veränderte Reiseroute.