: Ein Bürgerkriegsprogramm
Die Idee der „nationalen Selbstbestimmung“ dient als Rechtfertigung für Mord und Vertreibung – und hat auf dem Balkan mehr Leben gekostet als das Regime Titos
Und jetzt blasen die Liebhaber von Hymnen und Marschmusik den Albanern in Makedonien und im Kosovo sowie den Montenegrinern die Melodie von der „nationalen Souveränität“ und „nationalen Selbstbestimmung“ ins Ohr. Ist „das Recht auf nationale Selbstbestimmung“ eine vernünftige Vorstellung?
Der vermeintlich selbstverständliche Begriff ist voller Paradoxien. Die drei Komponenten „des Rechts auf nationale Selbstbestimmung“ (Recht, Nation, selbst) sind mehrdeutig und untereinander inkompatibel: Denn das „Selbst“, das „national“ auftritt, ist prinzipiell partikularistisch verfasst und auf den Ausschluss oder wenigstens die Zurücksetzung jener bedacht, die nicht zur „Nation“ gehören. Ein Recht dagegen, das seinen Namen verdient, muss der Idee nach alle gleich behandeln und ist insofern potenziell immer universalistisch. Wird die „Nationalität“ und damit die Zugehörigkeit zu einem Gemeinwesen nach Herkunft, Sprache, Religion oder Geschlecht definiert, muss ausgeschlossen werden, wer die Kriterien nicht erfüllt. Hält man sich dagegen an das Recht als Grundlage eines Staates, können Zufälligkeiten wie die der Herkunft, Sprache, Religion oder des Geschlechts niemals den Ausschluss begründen. Wer ein ethnisch, sprachlich und religiös durchmischtes Land gleichzeitig national und rechtlich ordnen will, muss die Lösung der Quadratur des Kreises vorgaukeln.
„Nationalstaat“ und „nationale“ Selbstbestimmungsrhetorik hatten nur kurz andauernde emanzipatorische Phasen in der Geschichte, als sich die Untertanen von feudaler oder kolonialer Bevormundung befreiten und Staatsbürger wurden. Der „Nationalstaat“ hat sich als Volksvorurteil in den Hirnen festgefressen, er gilt als globaler politischer Normalzustand. Demokratietauglich ist aber nicht die Fiktion eines religions-, sprach- oder herkunftsgemeinschaftlich begründeten Nationalstaats, sondern nur ein Staat, der sich als Rechtsgemeinschaft von Gleichberechtigten versteht jenseits von Differenzen in Sprache, Religion, Herkunft und Geschlecht der Einwohner. Diese Differenzen müssen weiterbestehen, aber für die Qualifizierung zur Staatsbürgerschaft, für die Chancenverteilung in der Bildung und auf dem Arbeitsmarkt dürfen sie keine Rolle spielen. Es geht nicht um die „Nation“, sondern um Rechtsstaat, Demokratie, Menschenrechte. „Nationale“ Selbstbestimmung ist folkloristische Gesinnungshuberei oder, wenn sie ernsthaft angestrebt wird, eine Kannibalenparole.
Das Vorhaben des montenegrinischen Außenministers Branko Lokovac, alle Völker im ehemaligen Jugoslawien sollten sich normalisieren, indem sie sich auf ihre „nationale“, „ethnische“ oder „religiöse“ Souveränität besinnen, ist ein Bürgerkriegsprogramm. Wie das funktioniert, führte die von der Nato geförderte albanische UÇK jüngst in Makedonien gerade vor. Wer auf dem Balkan vermeintlich „normale“ Nationalstaaten einrichten und dem „Recht auf nationale Selbstbestimmung“ zum Sieg verhelfen will, braucht nur Waffen hinzuschicken. Das ist billiger als das Bombardieren und die KFOR-Präsenz. Die „Lösung“ ergibt sich dann von selbst – durch Töten und Vertreiben.
Gegenüber den Begriffsakrobaten im publizistischen Nationalzirkus, die „national“ akzentuierte Selbstbestimmung für etwas Besseres halten als eine Menschenfresserparole, gilt es festzuhalten: Es gab niemals ein allgemein akzeptiertes Verfahren für die Bestimmung dessen, was eine „Nation“ ist. In den 20er-Jahren arbeiteten hoch bezahlte Fachleute für die Regierungen in Osteuropa am Projekt, „Methoden der Nationalitätenzählung“ auszutüfteln, um geografische Grenzen und rechtliche Ausgrenzungen „wissenschaftlich“ begründen zu können. Die Aktion zementierte nationalistische Vorurteile, verlieh diesen ein „wissenschaftliches“ Kostüm und heizte „nationale“ Konflikte an. Deren soziale, psychologische und politische Ursachen blieben unbearbeitet.
Es gab und gibt keine konsensfähige Theorie und Praxis, wie, von wem und wie weit das „Selbstbestimmungsrecht“ der willkürlich oder gar nicht definierten „Nation“ – demokratisch legitimiert – in Anspruch genommen werden soll – in Makedonien genauso wie im Kosovo, in Montenegro oder im Baskenland. Das „Recht auf nationale Selbstbestimmung“ läuft auf die Gleichsetzung von Recht und Gewalt und den Versuch einer „national“, sprachlich oder religiös homogenen Territorialisierung hinaus. Diese ist ohne die Vertreibung oder Vernichtung der Anderen nicht zu haben.
Erfunden wurde „das Recht auf nationale Selbstbestimmung“ nach dem Ersten Weltkrieg. Dieser und die Oktoberrevolution beerdigten die supranationalen Reiche – das zaristische, das österreichisch-ungarische und die letzten Reste des Osmanischen. 1918 erschienen der „Nationalstaat“ und das „Recht auf nationale Selbstbestimmung“ als Zauberformeln: jedem Kind einen Lampion und jeder „Nation“ ihren eigenen Staat – mit Flagge, Hymne und Armee. Tonangebend war der amerikanische Präsident Woodrow Wilson mit seinem „Friedens“-Programm vom 8. 1. 1918. Sein Außenminister hielt „das ganze Wort ‚Selbstbestimmung‘ (für) Dynamit“, aber das hinderte die Bastler nicht am Experimentieren mit „Nationen“ und „Nationalstaaten“. Es gelang trotz Umsiedlungen und Bevölkerungsaustausch nicht, den Balkan sprachlich, ethnisch und religiös homogen zu territorialisieren. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges erwies sich das Prinzip „nationale Selbstbestimmung“ als Stimmungsmacher im Schlachthaus Europa: Die „national“ zu kurz gekommenen Minderheiten von den Schlesiern und Sudetendeutschen bis zu den Slowaken und Kroaten in Ost- und Südosteuropa verbündeten sich „national“ mit Hitler.
Nach dem Krieg installierte Tito eine Nationalitätenpolitik, die eine autoritäre, aber insgesamt nicht terroristische Ordnung gewährleistete, von der übrigens Kosovo-Albaner lange profitierten. Vor zehn Jahren meinte die deutsche Balkanpolitik, das Passepartout zur Lösung der „national“ befeuerten Konflikte zwischen den Teilrepubliken Jugoslawiens gefunden zu haben, indem sie das „Recht auf nationale Selbstbestimmung“ wieder belebte und die Anerkennung Kroatiens und Sloweniens als „Nationalstaaten“ durchsetzte. Allein die Errichtung der „Nationalstaaten“ Kroatien und Serbische Republik erforderte mehr Opfer als Titos Regime. Genschers Kurs der Anerkennung verschärfte die Konflikte.
Doch auch die Deutschen selbst haben hier zu Lande seit der „Wende“ 1990 ihre Probleme mit der Nation: Die „Wiedervereinigung“ unter nationalen Vorzeichen erzeugte neue und verstärkte alte deutschnationale Phantome im Osten wie im Westen. Deren Umkippen in Chauvinismus und Rechtsradikalismus war nur eine Frage der Zeit: Thomas Schmid von der FAZ beschwört das Bluts„recht“, die Glatzen „reden“ gleich Faustrecht. Die „Nation“ – das ist ein Geisterreich, in dem die Einbildung wirklich und die Wirklichkeit fiktiv wird. RUDOLF WALTHER
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