: Rot-Grün soll umkehren
Gestern wurde das alternative Wirtschaftsgutachten vorgestellt. Es empfiehlt eine Kurskorrektur, so schnell es gehtaus Berlin BEATE WILLMS
Auf den ersten Blick könnte man meinen, man habe versehentlich ein psychiatrisches Gutachten in die Finger bekommen: Ein „geradezu missionarisches Verständnis von gesellschaftlicher ‚Modernisierung‘ als Staatsaufgabe“ wird da diagnostiziert – und die fixe Idee, überall nur noch „Verkrustungen, Reformstaus und gesellschaftliche Dinosaurier“ zu sehen. Die Rede ist nicht von einem x-beliebigen Patienten, sondern von der Bundesregierung. Und nur ganz kurz flackert der Gedanke auf, die Gruppe Alternative Wirtschaftspolitik sei in ihrem Memorandum 2001 tatsächlich zu dem Schluss gekommen, Rot-Grün brauche dringend eine Therapie.
Bei der Vorstellung des Gutachtens gestern in Berlin gelang dem Bremer Ökonomen Rudolf Hickel dann auch die Kurve zur ordnungsgemäßen Politikberatung. Statt eines Klinikaufenthalts empfahl er Rot-Grün „einen Bildungsurlaub in Sachen Gesamtwirtschaft und Staat“. Beim kleineren Koalitionspartner setzte er noch eins drauf und warf ihm vor, auch beim ökologischen Umbau versagt zu haben. Ganz verloren sehen die Experten die Grünen jedoch noch nicht: Hoffnung bereite die Debatte um den in dieser Woche vorgestellten Armuts- und Reichtumsbericht, der die Analyse der Memorandum-Gruppe von unverdächtiger Seite bestätige. Der Vorschlag der Bundestagsfraktion für eine bedarfsabhängigen Kindergrundsicherung (siehe taz von gestern) sei „genau der richtige Schritt“, so Hickel auf Nachfrage. Er zeige, dass die Grünen in der Sozialpolitik noch Kompetenz aufwiesen.
Mehr Lob für die rot-grüne Politik, mit der sie in ihren früheren Memoranden viele Hoffnungen verknüpft hatten, haben die Gutachter nicht. Stattdessen werfen sie der Bundesregierung vor, ein falsches Verständnis von Modernisierung geprägt zu haben. Was sie als „Reformen von historischer Bedeutung“ verkaufe, entpuppe sich schnell als „von zweifelhafter Qualität“. Die von Bundesfinanzminister Hans Eichel (SPD) so vehement propagierte Haushaltskonsolidierung bestehe so aus einem rigorosen Sparkurs, der die Konjunktur in keiner Weise unterstütze, und einem umfangreichem Sozialabbau, der die Entlastungen der unteren Einkommensgruppen durch die Einkommensteuerreform zunichte mache. Die Unternehmensteuerreform zeige jetzt schon die Tendenz, die Unternehmen zu einer stärkeren Finanzmarktorientierung statt zur Schaffung von Arbeitsplätzen zu motivieren. Und die Rentenreform mit ihrem Ausstieg aus der paritätischen und dem Einstieg in die Kapitalmarktfinanzierung nütze in erster Linie den Unternehmen und Versicherungskonzernen.
Nicht zuletzt liege die Regierung auch mit ihrem Ökosteuerkonzept daneben. Dass sie die Einnahmen zur Senkung der Lohnnebenkosten verwendet habe, sei ein schwerer Fehler: Die Unternehmen hätten die nun billigere Arbeit eben doch nicht vermehrt nachgefragt. Und man habe die Chance verschenkt, das öffentliche Bewusstsein für ökologische Politik zu schärfen.
Als Fazit warnen die Alternativen Experten die Bundesregierung, diesen Kurs im laufenden Jahr fortzusetzen. Was bei einem guten Wirtschaftswachstum möglicherweise noch zu verkraften sei, könne bei einer Krise, wie sie nach der Abschwächung der US-amerikanischen Wirtschaft drohe, zur Rezession führen.
Statt weiter zu sparen, müsse der Staat wieder Verantwortung übernehmen und ein umfassendes Investitionsprogramm auflegen, mit dem zugleich der längst stagnierende Aufholprozess in Ostdeutschland belebt werden könne. Das Memorandum 2001 veranschlagt für den Ausbau der Infrastruktur im Osten, die Verbesserung des Bildungsbereiches und den ökologischen Umbau in Gesamtdeutschland rund 150 Milliarden Mark in den nächsten fünf Jahren. Finanziert werden müsse dies über Mehreinnahmen. Möglichkeiten gebe es genug: von Vermögensteuern, Börsenumsatz- und Spekulationsteuern über Wertschöpfungsteuern bis hin zur Abschaffung des Ehegattensplittungs und der Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität und Steuerhinterziehung.
Thema: Wie wollen wir arbeiten? Alternativökonomie im GesprächSonntag, 29. 4., 11 Uhr
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