: „Neue Politik entsteht“
Globalisierungsgegnerin Vandana Shiva über die Erfolge und Schwierigkeiten der Protestbewegung seit Seattle
Interview SVEN HANSENund VOLKER WEIDERMANN
taz: Frau Shiva, Ihr Kampf gilt vor allem dem „neuen Kolonialismus“. Wie sieht der aus?
Vandana Shiva: Kolonialismus heißt zunächst, dass die Gesellschaft des Landes die Frage, die das Motto Ihres Kongresses bildet, „Wie wollen wir leben?“, nicht mehr selbst beantworten darf. Kolonialismus heißt, den Menschen die Macht zu nehmen, selbst Entscheidungen zu treffen über ihre Ressourcen, ihre Art zu leben, ihre Art zu produzieren oder Landwirtschaft zu betreiben. Kolonialismus heißt außerdem, die Wirtschaft eines Landes zu zerstören, sie in Abhängigkeit von der Kolonialmacht zu bringen. Genau das geschieht durch die Globalisierung im weltweiten Rahmen.
Was ist die gefährlichste Waffe der neuesten Kolonialisten?
Die Gentechnik und die Patentierung von Leben stellt jede Form des Kolonialismus, die wir bislang kannten, in den Schatten. Es werden heutzutage Räume kolonialisiert, von denen man früher nie zu träumen wagte. Lebensgrundlagen, Zellen, Tiere, Pflanzen. Alles aufgrund der neuen technischen Möglichkeiten. Es ist eine neue Invasion. Die Genpatente sind die Kanonenkugeln der Kolonialisten von heute.
Befürworter sagen, es gibt keinen anderen Weg, die Welt zu ernähren.
Unsinn. Es gibt viele Wege. Von der Gentechnik gibt es bislang nur eine Unmenge an Versprechen. Nichts davon wurde bislang eingelöst. Die Gefahren sind dafür potenziell grenzenlos. Mein Ausweg heißt: Ökologischer Landbau. Der industrialisierte Landbau bringt in Wirklichkeit gar nicht mehr Nahrung. Er produziert nur mehr Nahrung mit weniger Menschen, das heißt, er produziert mehr Elend und mehr Arbeitslosigkeit. Wir brauchen viele, kleine, ökologische Farmen.
Wir müssen also auch Schritte zurückgehen?
Das hat gar nichts mit vor und zurück, modern oder unmodern zu tun. Es gibt richtig und falsch. Und diese Form des Fortschritts ist falsch.
Haben die neu erstarkten Protestbewegungen in der Folge von Seattle Fortschritte in die richtige Richtung gebracht?
Für mich ist der größte Fortschritt dieser Bewegungen, dass Menschen sagen: Wir finden neue Wege, um Demokratie zu schaffen. Wir werden Demokratie beharrlich wieder erfinden. Ein Erfolg ist auch, dass die schleichende Abschaffung der Demokratie durch die Globalisierung nicht funktioniert hat. Nicht dass diese Proteste die ökonomischen Prozesse schon irgendwie aufhalten konnten. Aber sie zeigen, dass die Menschen nicht zum Schweigen zu bringen sind. Und der zweite wichtige Erfolg: Hier wurde der Grundstein gelegt für eine neue Form der Solidarität. Die Proteste bringen Bewegungen zusammen, die ansonsten isoliert und für sich gestanden haben. Gewerkschaftler, Frauenbewegung, Dritte-Welt-Aktivisten und Umweltschützer, und durch dieses Miteinander entsteht eine neue Politik. Die gemeinsame Suche, wie hier auf Ihrem Kongress: Was wollen wir in unserer Gesellschaft, was ist die positive Suche der Menschheit in all ihrer Vielfalt mit all ihren unterschiedlichen Interessen?
Aber sind sich die Menschen nicht nur einig im Dagegen? Ist das Dafür nicht viel zu unterschiedlich?
Ja. Aber das ist ein Prozess, der erst am Anfang steht. Das funktioniert nicht wie die Politik von früher, wo 20 Herren gemeinsam am Tisch saßen und den kleinsten gemeinsamen Nenner suchten. Die Politik der Regenbogenkoalitionen von heute sieht so aus: Sie verändert die Wissensgrundlage der anderen und somit die politische Orientierung durch eine Art Osmose. So verändert sich die Gewerkschaftsbewegung beim Lauf durch die Straßen von Québec gemeinsam mit Leuten aus anderen Sektoren und Bewegungen. Natürlich stehen wir mit diesem Prozess erst ganz am Anfang. Das ist unsere Form der Globalisierung: der große gemeinsame Weg auf der Suche nach einer neuen Menschlichkeit.
Sie stehen nicht nur auf den Rednerlisten der Gegengipfel, sondern werden auch von der Industrie zu den Hauptgipfeln eingeladen. Sind Sie das Feigenblatt von IWF und Weltbank?
Der erste Erfolg ist doch schon mal, dass die Veranstalter von Davos Leute wie mich einladen müssen, weil sie wissen, sie sind in einer Legitimationskrise. Deshalb brauchen sie uns. Aber offensichtlich endet der Prozess für sie mit dieser Einladung auch schon: Eine kleine symbolische Einladung: Öffne die Tür für einige, aber halte es exklusiv. In Davos haben wir gegen die Abschottung gekämpft, haben schriftlich protestiert und den Veranstaltern mitgeteilt, dass die Einladung an uns eine Lüge war. Auf der Seite der Veranstalter habe ich über die Jahre kaum Fortschritte im Bewusstsein feststellen können. Vielleicht eine Art Reflexion über unsere Beweggründe, sonst nichts. Der Fortschritt muss von uns kommen.
Aber Sie reisen trotzdem weiter auf diese Gipfel. Warum?
Schon allein um das Bild zurechtzurücken, das die meisten Medien von uns zeichnen: Allein denen zu zeigen, dass wir keine alten, verknöcherten Protektionisten sind, hier draußen. Wichtig ist der Dialog. Nur ein symbolischer, zugegeben. Aber ich kann immerhin noch sprechen und sagen: Seht nur her, wie viele Menschen protestieren. Hört zu und lasst Änderungen zu! Wir wollen wirkliche Veränderungen, und so lange das nicht passiert, muss der Druck von uns weitergehen. Wir müssen die Leute, die die Macht haben zum Zuhören bringen.
Unsere Regierung spricht gern von einer sozial abgefederten Globalisierung. Kann es das geben?
Nein. Die Grundlage der Globalisierung ist es, den Menschen Entscheidungen aufzuzwingen, ist eine Erosion der nationalen Souveränitäten. Aber alles Gewaltsame, von oben Verordnete, kann niemals sozial oder demokratisch sein. Wenn Globalisierung kommt, dann mus sie mit der Mitsprache der Menschen in zentralen Fragen beginnen: Welche Patente sollen erlaubt sein, welche Märkte wollen wir? Das sind einige der grundsätzlichen Fragen bei all den Protesten, und Antworten auf diese Fragen müssen am Anfang des Prozesses stehen. Wir brauchen eine große Demokratie-runde. Und die kann in einem zentralisierten System hinter geschlossenen Türen niemals stattfinden.
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