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Der Bescheidene

aus Hongkong SVEN HANSEN

Der 1. Mai in Hongkong ist ein merkwürdiger Tag. In der ostasiatischen Börsen- und Bankenmetropole ist die Situation von Arbeitern noch nie Diskussionsthema gewesen, auch nicht, seit Hongkongs Elite glänzende Geschäfte mit den Kommunisten vom chinesischen Festland macht. „Und ausgerechnet von Hongkong aus bekämpfe ich Chinas kommunistische Partei, die sich zwar als Partei der Arbeiter ausgibt, aber ihnen nicht erlaubt, sich frei zu organisieren“, sagt Han Dongfang.

Der 37-jährige Gewerkschafter aus Peking lebt nicht freiwillig in Hongkong. 1993 wurde er von Chinas Regierung ausgebürgert und in die damalige britische Kronkolonie abgeschoben. Nachdem er mehrmals vergeblich versucht hatte, in die Volksrepublik zurückzukehren, blieb er als einer der wenigen Dissidenten in der Stadt. Seit dem 1. Juli 1997, dem Tag der Rückgabe, lebt Han zwar wieder in China, doch betreten darf er das chinesische Festland nicht.

Gestern war Han einer von 800 unabhängigen Gewerkschaftern, die sich in Hongkongs Victoriapark zur 1. Maidemonstration trafen. Der 1. Mai wurde in Hongkong erst nach der Rückgabe der Kronkolonie an das kommunistische China zum Feiertag. Bis dahin hielten an diesem Tag in der Siebenmillionenstadt der Peking freundlich gesinnte Gerwerkschaftsverband und einige philippinische Hausangestellte Kundgebungen ab. Die Regierung lud zu einem Gewerkschaftsempfang, den die unabhängigen Gewerkschaften boykottierten.

Urlaub per Verordnung

Der diesjährige 1. Mai bescherte den Menschen in Hongkong wie in der Volksrepublik vor allem ein langes Wochenende. Die Regierung in Peking verordnete eine ganze Woche Urlaub, um die Bevölkerung zum Konsumieren zu bewegen. Am Vorabend des 1. Mai wurden in Pekings Großer Halle des Volkes die Modellarbeiter ausgezeichnet. Arbeiterrechte sind für die offizielle Gewerkschaft kein Thema, stattdessen forderte sie ihre Mitglieder zum Kampf gegen die Falun-Gong-Sekte auf.

Die Hongkonger Demonstranten ziehen mit gelben Transparenten durch das Einkaufsviertel Causeway Bay und singen zum Refrain von Glory, Glory Hallelujah auf kantonesisch: „Solidarität, Solidarität ist Macht“. Immer wieder stoppt die Polizei den Zug, um den einkaufenden Massen das Überqueren der Straße zu ermöglichen, auf der die Demonstranten ohnehin nur eine der vier Spuren benutzen dürfen.

Trotzdem macht die Demonstration Han Mut. „Vor sechs Jahren, als ich hier zum ersten Mal teilnahm, waren wir nur 70. Es werden jedes Jahr mehr“, sagt er. Han ist in Hongkong einer der prominentesten Gerwerkschaftsaktivisten. Der Dissident, der nach der Niederschlagung der chinesischen Demokratiebewegung 1989 in Peking für 22 Monate im Gefängnis saß, ist zum Indikator geworden, wie weit Peking seine Versprechen von Autonomie und Selbstbestimmung für Hongkong einhält. „Ich kann die Aufmerksamkeit nutzen“, sagt Han, „um auf die Situation der chinesischen Arbeiter aufmerksam zu machen.“

Han hält sich aus Hongkongs Politik heraus und bei Gewerkschaftsaktivitäten in der Stadt zurück. Gestern war der prominente Aktivist ein normaler Teilnehmer der kleinen Demonstration. Das hat nichts mit Angst zu tun. Han versteht sich noch immer als Festlandchinese. Die Sonderverwaltungszone Hongkong nutzt er als Basis, um die Arbeiter in der Volksrepublik zur Selbstorganisation zu ermuntern und den Kampf für ihre Rechte zu unterstützen. Dazu gibt Han das China Labour Bulletin heraus. Zweimal wöchentlich lässt er im chinesischen Programm des US-Senders Radio Free Asia chinesische Arbeiter selbst zu Wort kommen.

Vom Studio des mit amerikanischen Steuergeldern finanzierten Senders im neunten Stock eines Hochhauses blickt Han direkt auf Hongkongs Polizeihauptquartier herab. Seine volle Stimme ist für das Radio bestens geeignet. Gestern verglich er in seinem Kommentar die Pläne und Themen der Maidemonstrationen in Südafrika, Südkorea, Hongkong und von mexikanischen Arbeitsmigranten in Los Angeles. „Ich will meinen Zuhörern in China mitteilen, dass ihr Kampf zu einer weltweiten Bewegung für Arbeiterrechte gehört“, erklärt Han. Probleme, für einen Sender zu arbeiten, mit dem Washington eigene Ziele verfolgt, hat er nicht. „Ich akzeptiere von jedem Hilfe, der Chinas Arbeitern helfen will“, sagt er. „Die einzige Bedingung ist, dass mir niemand vorschreibt, wen ich zu kritisieren habe und wen nicht.“

Han bekommt etwa 60 Anrufe aus ganz China in der Woche. „Zu Beginn des Gespräches reden 95 Prozent von der Notwendigkeit, die Kommunistische Partei zu stürzen. Ich frage sie dann nach ihrer Situation, ihrer Familie, ihrem Job. Wenn wir nach fünf Minuten nicht über die Situation der Arbeiter reden, höre ich auf. Die Menschen sollen von sich erzählen, weil die anderen Radiozuhörer dann ihre eigene Situation reflektieren können“, sagt Han. Der Empfang der Sendungen wird in China regelmäßig von Störsendern der Regierung beeinträchtigt. Radio Free Asia sendet deshalb auf fünf Frequenzen.

Die Anrufer erreichen Han gefahrlos von öffentlichen Telefonen aus. Ein typisches Gespräch hat folgenden Verlauf, sagt Han: „Wenn wir über die Situation in den Staatsbetrieben der Anrufer sprechen, erzählen sie mir von den nicht bezahlten Löhnen. ‚Was habt ihr deswegen unternommen?‘, frage ich. ‚Nichts‘, sagen die Anrufer und beklagen sich bitter, dass die Regierung überhaupt nichts getan hätte. Wenn ich dann frage, warum sie denn nicht selbst etwas gemacht hätten, sind die Anrufer geschockt und sagen: ‚Wir können doch nichts machen!‘ Dann frage ich sie, wie viele Leute in der gleichen Situation sind wie sie. Mal sagen sie 500, mal 3.000. Ich frage, warum sie sich nicht zusammenschließen und sich nicht an das Komitee für Arbeitskonflikte wenden. Meist haben sie Angst. Dann sage ich ihnen: ‚Wenn ihr Angst habt, gibt es leider keinen Ausweg‘. Das hören sie nicht gern.“

Han ermuntert die Arbeiter, sich zusammenzuschließen und eine formale Beschwerde einzureichen. „Manchmal verweisen die Anrufer sogar auf das Beispiel eines Nachbarbetriebs, wo die Arbeiter den Verkehr blockierten und der Bürgermeister daraufhin sofort versprach, die ausstehenden Löhne auszuzahlen. Ich sage ihnen dann, dass sie immer noch auf die Straße gehen können, wenn die Beschwerde fruchtlos bleibt, aber dass sie zunächst den rechtlichen Weg einhalten sollen“, sagt Han. „Ich kann von Hongkong aus mit Einzelpersonen in China keine Streiks organisieren. Aber ich möchte die Anrufer und Zuhörer ermuntern, selbst etwas zu unternehmen.“ Manchmal ruft er direkt die Fabrikdirektoren oder Bürgermeister an, die bereitwillig Auskunft geben. Manchmal beschweren sie sich selbst über höhere Stellen.

„In einem kommunistischen Land eine unabhängige Gewerkschaft zu gründen, ist viel schwieriger als anderswo“, sagt er. Seiner Meinung nach sind die Arbeiterdemonstrationen in China immer besser organisiert und finden immer öfter erst dann statt, nachdem der Rechtsweg durchlaufen wurde. Ob das an seiner Arbeit liegt, wisse er nicht, aber es sei eine Entwicklung in die richtige Richtung. Im vergangenen Jahr gab es in China 260.000 Protestaktionen, sagt Han, der sich auf ein regierungsinternes Dokument beruft. „Die meisten davon waren von Arbeitern“. Während Chinas Regierung die Zahl der städtischen Arbeitslosen mit zwölf Millionen angibt, schätzt Han sie auf 40 bis 50 Millionen.

„Wir brauchen ein Sozialversicherungssystem und Umschulungsmaßnahmen“, sagt Han. Vom Beitritt Chinas in die Welthandelsorganisation WTO verspricht er sich nicht viel, ist aber auch nicht dagegen: „Ob mit oder ohne WTO: Chinas Arbeiter brauchen das Streikrecht und die Möglichkeit zu kollektiven Arbeitsverhandlungen.“ Die WTO selbst sei nicht demokratisch legitimiert, kümmere sich nicht um Sozialstandards und setze sich für Konzerne und nicht für soziale Verantwortung ein. Doch Chinas bisheriges System sei dringend reformbedürftig.

Eine wichtige Verbindung

Lee Cheuk Yan, der Generalsekretär des unabhängigen Hongkonger Gewerkschaftsverbandes HKCTU und ein Vertreter der Demokratiebewegung im Hongkonger Parlament, bezeichnet Han als wichtige Verbindung zwischen China und der internationalen Gewerkschaftsbewegung. „Er ist das Saatkorn für unabhängige Gewerkschaften in China“, sagt Lee, der voll des Lobes für Han ist. „Er ist sehr sensibel und bescheiden, er kennt seine Grenzen, doch er lässt sich nicht entmutigen.“

Das China Labour Bulletin veröffentlichten Han und seine Mitarbeiter bisher zweimonatlich als Zeitschrift. Künftig konzentrieren sie sich auf die Internet-Version (www.china-labour.org.hk), die jederzeit aktualisiert werden kann. Die chinesische Fassung will Han als Basis zum Aufbau eines landesweiten Netzwerks nutzen, um über Gewerkschaftsrechte und Arbeitskämpfe zu informieren. „Ich glaube, dass es in den nächsten fünf Jahren in China einen großen Wandel geben wird. Bis dahin muss das Netzwerk stehen.“ Dann, hofft Han, werde auch er nach China zurückkehren können. Vor einer erneuten Verhaftung hat er keine Angst.

Zum Abschied sagt er wehmütig: „Wenn ich die Gewerkschaftsdemonstration hier in Hongkong sehe, frage ich mich, wie stark unsere Gewerkschaft wohl heute in China ohne Verbot wäre. Doch wir kommen wieder.“

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