: Die Freiheit, die Lukaschenko meint
Zeitungsleser haben genauso resigniert wie Medienschaffende. Eine weißrussische Journalistin berichtet
MINSK taz ■ In meinem Haus, in dem die Menschen, darunter viele Mitarbeiter der Universität, traditionell viel lesen, sind die Briefkästen jetzt meistens leer. Es ist kaum zu glauben, dass meine Nachbarn noch vor zehn Jahren einen großen Teil ihres Einkommens für Zeitungsabonnements ausgaben und morgens sofort zum Kiosk rannten. Wenn wir uns kurz trafen, fragten wir einander nicht „Wie geht es?“, sondern „Haben Sie schon gelesen . . .?“ Heute, so finden meine Nachbarn, sei ein Abonnement teuer und in den weißrussischen Medien gebe es sowieso nichts zu lesen. Nach soziologischen Untersuchungen haben mehr als 70 Prozent der Bevölkerung das Interesse an der Tagespresse verloren. Das gilt für die staatliche wie für die nichtstaatliche Presse.
Und wer noch Zeitungen kauft, kauft solche Titel wie Der Hausarzt und Von Hand zu Hand, ein Kleinanzeigenblatt. „Etwas Ernsthaftes in Weißrussland herauszugeben lohnt sich einfach nicht“, sagt ein Bekannter, ein Branchenkenner. „Die Steuerpolitik wurde verschärft, die Mittelschicht ist verschwunden. Und ausländische Investoren anzulocken, kannst du vergessen. Von einer unabhängigen Presse zu sprechen ist einfach lächerlich“, sagt er.
Im Vergleich zu den 90er-Jahren hat sich die Auflage aller großen weißrussischen Zeitungen um ein Vielfaches verringert. Das Papier ist teurer geworden, auch die Druckkosten und der Vertrieb in den Regionen. Für die nichtstaatliche Presse haben sich die Vertriebskosten in den vergangenen Monaten auf das Doppelte erhöht. Auch die Werbeeinnahmen sind gesunken. Viele ehemalige Auftraggeber waren die Besuche der Steuerpolizei leid. Andere größere Betriebe wurden auf Anordnung von oben gezwungen, ihr Geld in verschiedene Präsidentenfonds oder Sportclubs zu investieren. Große Staatsbetriebe dürfen ohnehin nur in den staatlichen Medien werben, die zusätzlich aus dem Staatshaushalt alimentiert werden.
„Was sich bei uns abspielt, ist beschämend. Bis vor kurzem glaubte ich noch, dass sich ein Journalist aus allen politischen Spielchen herauszuhalten habe, und so wurde ich Sportjournalist beim Fernsehen“, sagt ein ehemaliger Sportkommentator beim Weißrussischen Fernsehen. „Dann erlaubte ich mir einmal folgende naive Äußerung: Die Tatsache, dass unserem Präsidenten Hockey mehr am Herzen liegt als Biathlon, rechtfertige nicht, ein zweitklassiges Hockeyturnier statt eines internationalen Biathlonwettbewerbs zu übertragen.“ Das kostete ihn seinen Job.
Eine der Hauptquellen der Existenzsicherung alternativer weißrussischer Medien waren in der Vergangenheit Zuwendungen internationaler Organisationen. Das Dekret Nr. 8 des Präsidenten, das finanzielle Hilfe von außen an unabhägige Organisationen und Medien fast unmöglich macht, könnte die alternativen Medien ihre Existenz kosten.
Heute sind viele Journalisten der Meinung, dass die Arbeit in nichtstaatlichen, vor allem in oppositionellen Medien ein großes Risiko darstellt. E-Mails und die Telefone der meisten unabhängigen Journalisten werden ständig überwacht. Wenn man einen Kollegen anruft, hört man häufig anstelle seiner Stimme das Programm des weißrussischen Dienstes von Radio Liberty oder das des unabhängigen Radiosenders Radio Razja. Offensichtlich hat der Geheimdienst diese Programme nicht rechtzeitig abgeschaltet . . .
„Einerseits haben wir in Weißrussland eine Verfassung, die die Freiheit des Wortes garantiert, und ein liberales Gesetz über Massenmedien“, sagt Juri Karmanow, ein Mitarbeiter von Radio Razja. „Jedoch in unserem Land ist nicht der Text wichtig, sondern der Kontext. So kann kann auch das liberalste Gesetz noch unerträgliche Bedingungen für die Existenz von Medien schaffen.“
Derzeit werden in Minsk und anderswo keine Journalisten verhaftet. Beim letzten Tschernobyl-Gedenkmarsch hielt sich die Miliz zurück. Fragt sich nur, wie lange. Wahrscheinlich bis zum Beginn des Präsidentenwahlkampfs . . .
Auch ist es bald ein Jahr her, dass in Minsk der Korrespondent des Moskauer Fernsehsenders ORT, Dmitri Zawadski, spurlos verschwand. Nach Angaben von Lukaschenko arbeiten sowohl die Miliz als auch der KGB daran, den Fall aufzuklären. Nachdem in den unabhängigen Medien Informationen erschienen waren, dass der Sicherheitsdienst des Präsidenten etwas mit Zawadskis Verschwinden zu tun haben könnte, wurden die Chefs der verantwortlichen Behörden ausgetauscht. ELENA PANKRATOVA
Die Autorin ist Mitglied des unabhängigen weißrussischen Journalistenverbandes (Basch)
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