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Meine kleine Kapitulation

von CHRISTIAN SEMLER

Als Anfang Mai im niederbayrischen Straubing, dem Ort unserer „Evakuierung“, das Kriegsende heraufzog, war ich 6 [1]/2 Jahre alt und glücklich. Das hatte zwei Gründe. Erstens war der Schulunterricht eingestellt und nichts sprach dafür, dass er so bald wieder aufgenommen würde (entgegen einer alliierten Anordnung und zu meinem übergroßen Kummer öffnete die Schule schon wieder im Juni). Und zweitens: Ich war zu meinem 6. Geburtstag unbeschenkt geblieben und auf mein Gezeter hin hatte meine Mama geantwortet, ich solle mich etwas gedulden, bald kämen die Amis und dann wäre es vorbei mit der geschenkelosen Zeit.

Jetzt nahten die Amis, versprengte Wehrmachtsangehörige entledigten sich massenhaft der Gewehre wie der Uniformen. Die ländliche Bevölkerung samt Produkten bezog am Straßenrand Stellung, um mit den Siegern in Handelsbeziehungen einzutreten – eine vergebliche Hoffnung. Angst vor Vergiftung, Ekel vor Naturprodukten und eindeutige Befehle hinderten die Besatzer, Butter & Eier auch nur zu beschlagnahmen. Um ihre Friedfertigkeit zu betonen, hissten die Stadtbewohner weiße Laken, aber nur provisorisch, damit sie bei plötzlich auftauchenden Durchhalte-Trupps rasch wieder eingezogen werden konnten.

Ich war viel zu jung, um Pimpf zu sein, wäre ich älter gewesen, ich hätte mich bestimmt gedrückt. Einerseits liebte ich zwar Aufzüge und Trommeln. Andererseits verstand ich einfach nicht, wie man sich als Pimpf freiwillig in Reih und Glied aufstellen und in strammer Haltung längere Zeit verharren konnte. Und wie man, ohne mit der Wimper zu zucken, Ohrfeigen vom Scharführer einsteckte, ein Vorgang, den zu beobachten ich mehrfach Gelegenheit hatte.

Meine Mama klärte mich auf: Das ist bei denen so. Sie war zwar jähzornig und die Hand rutschte ihr ab und zu aus, aber bei Strafaktionen ließ sie es auf einen Wettlauf ankommen oder war rasch versöhnt, wenn irgendein Umstand sie erheiterte.

Kaum hatte ich gehört, dass die Amis keinen Kilometer mehr entfernt wären, griff ich mir ein herumliegendes Papierfähnchen (mit Hakenkreuzemblem) und beschloss, ihnen entgegenzueilen. Zuerst sah ich die amerikanischen Räumfahrzeuge in Aktion. Sie griffen unter Straßenbarrikaden wie Kuchenheber unter die Sonntagstorte und schoben das Hindernis umstandslos beiseite. Dann folgte der Vortrupp auf beiden Seiten der Straße, schwer bewaffnet und unbegreiflicherweise mit grauer Schmiere im Gesicht. Ich wurde als Empfangskomitee unsanft in den Straßengraben gestoßen und musste eine ganze Weile warten, bis ich, hinter dem Vortrupp trottend und immer noch das Fähnchen schwingend, wieder unser Haus erreichte. Mein Verschwinden hatte für Aufregung gesorgt. Kein Wunder, dass ich, ehe an Flucht zu denken war, zwei saftige mütterliche Maulschellen einfing.

Trotz dieses unerfreulichen Auftakts der Befreiung besserte sich die Lage unserer Kleinfamilie binnen weniger Tage. Meine Mama, die zuerst wegen Missachtung der Ausgangssperre über Nacht eingesperrt worden war, avancierte umgehend zum Dolmetscher. Und als sich herumgesprochen hatte, dass sie nicht nur Englisch sprechen, sondern – als Schauspielerin – sogar singen konnte, ging es unaufhaltsam aufwärts. Erst wurde in Straubing Theater improvisiert, später im Jahr zog meine Mutter nach München, wo, wiederum unter Beihilfe der Besatzungsmacht, 1946 die „Schaubude“ öffnete.

Nicht nur sah ich mich schon im Juni 45 im Besitz eines olivgrünen Overalls, den ich trug, bis er mit vom Leibe fiel. Meine Schwester und ich durften auch – zum gelben Neid meiner Altersgenossen – in dem Jeep mitfahren, den ein amerikanischer Kulturoffizier meiner Mama organisiert hatte. Kein Wunder, dass ich die Amis als Befreier schätzte. Außerdem traten sie lässig auf, hörten ständig Musik und gerierten sich betont kinderfreundlich – alles Eigenschaften, die ich an meiner Mama liebte und für die ich erst viel, viel später das richtige Wort erfuhr: Sie waren antiautoritär.

Auch meine Umerziehung machte rasche Fortschritte. Den Song „Der Mensch lebt durch den Kopf“ hatte mir meine Mama schon im Vorschulalter beigebracht, so dass ich weiterem linken Liedgut gegenüber aufgeschlossen blieb. Und rasch begriff ich, dass unter den Alliierten die Amis und unter den Deutschen die Künstler die Guten waren.

Das hat sich später etwas differenziert. Was aber blieb, war die Liebe zu Hershey-Schokolade und Ahornsirup, zu Tom Sawyer und Huckleberry Finn, zu „Honest Abe“ und zu „Citizen Tom Paine“ , zu den GIs und zu ihrem Sender, dem AFN. So war es noch, als wir, linksradikale Studenten, zwanzig Jahre später im „International“ an der Berliner Potsdamer Straße angesichts des Vietnamkrieges die amerikanischen Soldaten zur Desertion aufforderten.

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