: Abstellkammer Ost
Zu DDR-Zeiten waren sie in ihren Berufen erfolgreich, heute bewerben sie sich auf Stellen, für die sie eigentlich überqualifiziert sind. Und angeblich zu alt
von KIRSTEN KÜPPERS
Eine russische Kraftwerksingenieurin, ein Angehöriger der Akademie der Wissenschaften, ein Generaldirektor, eine Facheinkäuferin, ein Prokurist, ein Planungsingenieur, ein bulgarischer Geschäftsmann: Mit diesen Menschen könnte man eine Stadt bauen, Industriegebiete hochziehen, Versorgungsnetze zum Funktionieren bringen.
Elf Männer und fünf Frauen sitzen in einem Raum des Schulungszentrums Berlin-Lichtenberg. Ein neonbeleuchteter Stuhlkreis voller akademischer Erfahrung. Hoch qualifiziert, aber ungenutzt. Die sechzehn Anwesenden wissen, dass für sie die Zeiten der Nettoabschlüsse, der Verdienstauszeichnungen und Zulagen vorbei sind. Sie sind hier, weil das Arbeitsamt sie geschickt hat.
Nach der gesetzlichen Regelung müssen Erwerbslose ein Bewerbungstraining absolvieren, sagt Klaus Pohl, Pressesprecher des Landesarbeitsamtes Berlin-Brandenburg. Ansonsten verwirken sie ihr Recht auf Geld vom Arbeitsamt. Tatsächlich stehen die Marktchancen schlecht für diese ehemalige Ingenieurselite aus dem Ostberliner Einzugsgebiet. Die meisten sind schon lange keine jungen Aufsteiger mehr, viele bereits über fünfzig Jahre alt. Die letzten Karrieresprünge datieren aus DDR-Zeiten.
Es ist 7.45 Uhr. Hinter der Thermoverglasung des Schulungszentrums zieht ein kühler Mittwochmorgen über das Gewerbegebiet Lichtenberg herauf. Die Gesichter im Stuhlkreis sehen müde aus, mürrisch, in sich selbst verkrochen. Die Begrüßungswitzchen des Bewerbungstrainers Lutz Militsch laufen ins Leere. Der ernste Prokurist starrt auf den Kunstfaserteppich. Der bullige Generaldirektor spielt gelangweilt an einem Taschenrechner herum, die Russin mit den weichen Gesichtszügen packt langsam ein Bonbon aus. Nur ein zierlicher Herr nickt und lächelt immer wieder, als könnte er mit offensiver Freundlichkeit die schlechte Laune seiner Sitznachbarn bei Militsch wiedergutmachen.
Über die vom Arbeitsamt finanzierte Trainingsmaßnahme sollen die Teilnehmer erfahren, inwieweit sie „noch marktgerecht“ sind, hatte der geschäftsführende Gesellschafter der Bildungseinrichtung, Hans-Joachim Schulze, vorher erklärt. Viele Kandidaten seien „unverschuldet“ in die Erwerbslosigkeit gefallen: Ihre Arbeitsplätze wurden nach der Wende abgewickelt, Personal wegrationalisiert, die Firma ging in Konkurs. Sie müssten jetzt über die Lage auf dem deutschen Arbeitsmarkt informiert werden. Schließlich sei es für Erwerbslose eine nicht unerhebliche Tatsache, dass es in Süddeutschland vier Prozent Arbeitslosigkeit gibt, in Berlin dramatische vierzehn Prozent. Besonders in Flexibilität, Pünktlichkeit, Zuverlässigkeit und Konzentration sollten sich die Teilnehmer üben. Denn „bereits nach sechs Monaten Arbeitslosigkeit lassen soziale Kompetenzen nach“, hatte Schulze behauptet. Ziel des vierwöchigen Bewerbungstrainings sei, dass die Teilnehmer am Ende „hoch motiviert herausgehen“.
Lutz Militsch ist der Mann, der dieses kleine Wunder vollbringen soll. Der freiberufliche Bewerbungstrainer mit schwarzer Lederweste und Bart erinnert an eine Mischung aus Jürgen von der Lippe und Bierkutscher. Falsche Hoffnungen macht er den sechzehn Arbeitslosen im Raum trotz seines gemütlichen Aussehens aber noch lange nicht. „Ihre Chancen auf einen Job sind eins zu hundert. Wir können Sie in diesem Kreis nur auf eins zu siebzig verbessern“, sagt er ein ums andere Mal. Seine Kunden kennen die Lage. Sie gelten als Reststoffe in der Arbeitswelt, viele auf lebenslänglich. Längst haben sie die Bedeutung der Begriffe erfahren, die sich mit einer goldenen Zukunft in der Marktwirtschaft schlecht zu vertragen scheinen: ostdeutsch und jenseits der dreißig. In dieser Runde Illusionen zu wecken würde von mangelndem Respekt zeugen. Militsch weiß das.
Zu Beginn dieses dritten Seminartages setzt er trotzdem zur Stärkung des Selbstbewusstseins an. „Sie wollen doch keine Hausmeister werden!“, versucht Militsch die arbeitslosen Ingenieure aufzurütteln. Selbsterfahrungsjargon wäre bei diesem Publikum fehl am Platz. „Sie müssen den Leuten klarmachen, dass sie keine Niete sind“, sagt er. Und: „Sie sind doch Akademiker!“ In der Sprache seines Trainingsplans heißt diese Übung „Ist-Analyse“.
Viele Teilnehmer kennen diesen Arbeitsschritt schon aus früheren Bewerbungstrainings, die sie in diversen Phasen der Arbeitslosigkeit seit der Wende durchlaufen haben. Gegen solche Revolutionierungsmethoden helfen nur die viel überzeugenderen Argumente eigener Bewerbungserfahrungen. „Die Personalchefs nehmen doch lieber einen 25-Jährigen, wenn sie nicht doof sind“, zischt ein grauhaariger Mann fast wütend. Er sei schon seit mehreren Jahren arbeitslos und wisse, wovon er rede. Sein Sohn habe schließlich keine Probleme, einen Job zu finden. Andere nicken. Einer liest bewegungslos Zeitung.
Auch der ehemalige Generaldirektor glaubt nicht an Militschs Vertrauensbekundungen. „Ich hab das alles schon mal mitgemacht“, sagt er später in der Zigarettenpause. Zuletzt habe er in einem Ost-West-Jointventure als Planungsingenieur für Wohnumfeldgestaltung gearbeitet. Dann seien die Aufträge ausgeblieben. Drei Monate sei er jetzt arbeitslos. „Von Bewerbungsstrategien halte ich überhaupt nichts“, meint er. „Mit 56 Jahren werde ich mich sowieso nicht mehr bewerben.“ Er versuche nur die Zeit bis zur Rente zu überbrücken. Demonstrativ räumt er seinen Taschenrechner in die braune Aktentasche und setzt sich wieder aufrecht auf den Stuhl.
Neben ihm ist ein Mann im Sitzen eingeschlafen. Die schweigsame Kraftwerksingenieurin packt noch ein Bonbon aus. Die anderen Teilnehmer sammeln sich an den Stehtischen vor dem kaputten Kaffeeautomaten im Aufenthaltsraum. Einige stehen auch draußen vor dem Eingang des Trainingszentrums und rauchen.
Nach der Pause hat Militsch mehr Erfolg beim Kurs. Vor dem ersten Bewerbungsgespräch gelte es, so viele Information wie möglich über den Betrieb einzuholen, rät er. Den Pförtner solle man fragen, die Sekretärin anrufen, die Bewerbung in einer Mappe mit der Firmenfarbe losschicken. Praktische Tipps kommen bei der Gruppe gut an. Es scheint Wege aus der Abstellkammer zu geben. Viele machen sich Notizen. Und als später in der Mittagspause die Facheinkäuferin und die Chemielaborantin in der dunkel getäfelten Kantine beim Fischfilet sitzen, ist die Stimmung kurzzeitig fast zukunftsfroh. Fünfzig Bewerbungen hat die 38-jährige Chemielaborantin in einem Jahr Arbeitslosigkeit schon losgeschickt. Sie möchte gerne wieder in einem Forschungsinstitut arbeiten. „Aber jetzt wird es schon klappen“, glaubt sie. Die sechs Jahre ältere Facheinkäuferin arbeitete vor ihrer Babypause beim „Industriekombinat Elektroprojekt und Anlagenbau“ und beurteilt die Lage genauso optimistisch. Schlecht sähe es eher für die Älteren im Kurs aus, meinen beide.
Für solche wie die 54-jährige Russin zum Beispiel. Als sie früher in ihrer Heimat ganz oben auf dem Turm des Kraftwerks stehen musste, sei das Leben noch aufregend und schön gewesen, erzählt sie. In Deutschland habe sie bisher nur als Erzieherin arbeiten können. Jetzt soll sie in der Arbeitsamtschulung lernen, mit Computern umzugehen. Sie lächelt unsicher und verteilt schon wieder Bonbons an ihre Sitznachbarinnen.
Auch das ehemalige Mitglied der Akademie der Wissenschaften der DDR hat auf neue Technologien umgesattelt. Der 56-Jährige hofft auf eine neue ABM-Stelle als Computertrainer für Kinder. Mit seinem früheren privilegierten Job, in dem er mit „Radioaktivität und Versuchstieren“ zu tun hatte, ist seit der Wende Schluss. Mit Durchschnittlichkeit hat er sich abgefunden, und die vor wenigen Monaten ausgelaufene ABM-Stelle mit Kindern habe ihm „wirklich großen Spaß gemacht“. Ihn stört jedoch, „dass man jetzt als Arbeitsloser behandelt wird wie ein Kranker“.
Im Seminarprogramm gehört der öffentliche Umgang mit Erwerbslosigkeit zum Thema „Lebenslauf“. Wie der zu verfassen ist, kommt am Nachmittag dran: „Wir wollen niemals lügen, aber sparsam mit der Wahrheit umgehen“, empfiehlt Bewerbungstrainer Militsch. Wer mehr als zwei Jahre arbeitslos sei, solle die Pflege einer kranken Tante oder einen Erziehungsurlaub vorschützen. „Sonst klingt das negativ nach Sofaecke und Aldibier.“ Statt dessen gelte es, sich „immer als aktiven Menschen“ zu präsentieren. Und wieder: „Sie müssen alles versuchen, was geht. Sie haben schließlich keine andere Wahl.“
Korrekturen betreffen auch andere Abschnitte im Lebenslauf. „Schreiben Sie nichts von Tätigkeiten als FDJ-Chef oder dass Sie eine LPG saniert haben“, warnt Militsch. Und auch Beurteilungen aus der DDR-Zeit solle man besser weglassen. In diesem Punkt allerdings hat er sein Publikum empfindlich getroffen. So billig lassen sich die Ingenieure ihre Biografien dann doch nicht überplanieren. Das Stillhalteabkommen scheint gebrochen. „Aber was bleiben dann für Zeugnisse von meinen früheren Tätigkeiten?“, fragt ein Mann erschrocken. Ein anderer brummt: „Ist doch keine Schande.“
Eine Frau im gelben Pullover beginnt umständlich zu erklären, dass ihre beruflichen Erfolge doch nicht in den letzten zehn Jahren lägen, wo sie sich dreimal von ABM-Stelle zu ABM-Stelle gehangelt habe und sich jetzt bloß noch auf Jobs im Einkaufszentrum bewerbe. Nur der Generaldirektor sagt bissig: „Das ist Marktwirtschaft? Innerlich hat man seinen Marxismus-Leninismus doch sowieso schon längst geschwärzt.“ Angriffslustig blickt er in die Runde.
Für Trost bei eventuellen Härten der Geschichte ist das Schulungszentrum nicht zuständig. Hier zählt die Macht des Faktischen. „Abhandlungen über die DDR-Geschichte“, prophezeit Militsch, „wandern bei Personalabteilungen gleich in den Papierkorb. Glauben Sie mir, es ist so.“ Auch die Runde weiß insgeheim, dass Militsch Recht hat. Er ist einer von ihnen, auch aus dem Osten. Der würde sie nicht über den Tisch ziehen. Der Ärger in den Gesichtern weicht grauer Frustration. Schnell leitet Militsch zum nächsten Punkt über, der Formulierung des Anschreibens. „Und die Bewerbung bloß nicht in einem alten DDR-Umschlag verschicken!“
Wenig später, um 15.30 Uhr, gilt der Seminarstoff für den heutigen Tag als vermittelt. Die Ingenieure ziehen ihre Jacken an. Der zierliche Herr sagt noch: „Wer nicht arbeitslos ist, ist ja gar nicht auf dem neuesten Stand, wie man eine Bewerbung heutzutage machen muss.“ Er lächelt und schüttelt den Kopf.
KIRSTEN KÜPPERS, 28, ist Politologin und lebt als freie Journalistin in Berlin
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