: Singles sind unschuldig
Die Renten geraten unter Druck. Verantwortlich ist angeblich der „Gebärstreik“. Doch selbst wenn jede Frau zwei Kinder hätte, würde Deutschland vergreisen
Jetzt ist die Rentenreform verabschiedet, doch weiter begleiten wird uns die Diskussion, wer die Renten zahlen soll. Und es wird unverändert geklagt werden, dass die Deutschen zu wenig Kinder „produzieren“. Besonders Kinderlose und Singles werden sich rechtfertigen müssen. Zu Unrecht: Das Hauptproblem ist nicht, dass die Zahl der Kinder sinkt, sondern dass die Lebenserwartung so stark gestiegen ist. Das gegenwärtige Sozialversicherungssystem würde nämlich sogar in der idealen Familiengemeinschaft unter Druck geraten.
Dies zeigt ein einfaches Gedankenexperiment: Es waren einmal ein paar verbrecherische Gentechniker, die die Thesen der Bevölkerungswissenschaftler und Familiensoziologen experimentell überprüfen wollten. Als Experimentierfeld haben sie sich drei Inseln ausgesucht, um Zu- und Abwanderungsprozesse auszuschließen. Die weiblichen Teilnehmer wurden alle mit einem Gendefekt ausgestattet, der für Bevölkerungswissenchaftler ideal ist: Die Frauen müssen im Alter von 20 Jahren gebären. Weiterhin bewirkt dieser Defekt, dass jede Frau nur Zwillinge auf die Welt bringt und zwar immer einen Jungen und ein Mädchen. Dies ist die Grundbedingung der Bevölkerungswissenschaftler für eine vollständige Reproduktion einer Generation in einer idealen Gemeinschaft.
Auf jeder Insel werden vier Neugeborene ausgesetzt. Je zwei Jungen und zwei Mädchen, die zwei Paare ergeben. Alle leben monogam. Der Gebärzwang sorgt dafür, dass keine Kinderlose existieren. Also keine swinging Singles und sonstige Trittbrettfahrer, sondern eben heile 50er-Jahre-Filmidylle.
Zum Zeitpunkt 0 werden auf jeder Insel die Neugeborenen ausgesetzt und von einer Roboteramme betreut. Sie ist ein Wunderwerk der Technik und nicht von einer Mutti der 50er-Jahre zu unterscheiden. Sie kann sich zwar nicht fortpflanzen, wird aber locker mit vier Kindern fertig. Wenn man so will, ist sie die Kinderlose, die nötig ist, um das Experiment überhaupt durchführen zu können.
Diese Grundbedingungen sind auf allen Inseln gleich. Die Idylle hat natürlich einen Haken; unsere verbrecherischen Gentechniker variieren experimentell, was sonst gern außer Acht gelassen wird: Jede Population dieser schönen Neuen Gemeinschaften ist nämlich mit einer unterschiedlichen Sterblichkeit ausgestattet.
Auf der Insel A wohnen die Kurzlebigen. Sie sterben mit 40 Jahren an einem Herzinfarkt. Auf Insel B tritt dieses Ereignis erst im Alter von 60 Jahren ein und auf Insel C mit 80 Jahren.
Insel A hat nach 30 Jahren ihre endgültige Bevölkerungszahl erreicht. Diese Gemeinschaft wird immer aus acht Menschen bestehen. Das Durchschnittsalter beträgt zu diesem Zeitpunkt 20 Jahre. Welch eine virile Gemeinschaft! Unsere Bevölkerungswissenschaftler sind begeistert.
Insel B hat sich nach 30 Jahren ebenfalls prächtig entwickelt. Es besteht kein erkennbarer Unterschied zu Insel A. Nach weiteren 20 Jahren leben aber 12 Menschen auf der Insel und es werden immer 12 Personen bleiben. Das Durchschnittsalter liegt jedoch bei 30 Jahren. Die Bevölkerungswissenschaftler werden dies mürrisch registrieren, aber mit 30 ist man noch wirtschaftlich produktiv und die Bevölkerung ist zumindest fruchtbar.
Insel A und B haben also nach 50 Jahren beide ihr maximales Bevölkerungsniveau erreicht, aber die Anzahl der Menschen ist genauso verschieden wie das Durchschnittsalter. Welch ein Glück, dass es auf beiden Inseln keine Sozialpolitiker gibt, die würden doch glatt die Roboteramme für die unterschiedliche demografische Entwicklung verantwortlich machen!
Jetzt aber zur Insel C. Hier werden die Unterschiede erst nach 70 Jahren deutlich. Dann ist die endgültige Bevölkerungszahl von 16 Personen erreicht. Auf der Insel leben zu diesem Zeitpunkt doppelt so viele Menschen wie auf Insel A. Zudem ist das Durchschnittsalter mit 40 Jahren doppelt so hoch wie auf Insel A. Aber weit und breit ist kein Kinderloser, außer der Roboteramme, die inzwischen im Museum steht, weil sie ja nur zur Aufzucht der ersten Generation gebraucht worden ist. Es ist also ein bevölkerungsreicher Greisenstaat entstanden und das ganz ohne Kinderlose!
Selbst eine Fortpflanzungsrate von zwei Kindern pro Frau löst also nicht das Problem, dass die steigende Lebenserwartung den statisch verstandenen Generationenvertrag aufkündigt. Jede Generation muss mehr Kinder zur Welt bringen als ihre Eltern, wenn die Altersstruktur gleich bleiben soll. Dieser Geburtenwettlauf kann nicht gewonnen werden. Wer den Effekt der zunehmenden Lebensdauer kompensieren will, der erhöht ständig das Bevölkerungsniveau. Damit wird letztlich das Problem nur verschoben, aber nicht gelöst.
Dies lässt sich nochmals anhand der Inseln veranschaulichen. Auf der Insel A und B stellt sich das Rentenproblem gar nicht erst, sondern nur der Nachwuchs muss großgezogen werden. Erst auf der Insel C leben vier Generationen zusammen. Eine Generation muss aufgezogen werden, eine befindet sich im leistungsfähigen Alter, eine hat in den Vorruhestand gewechselt und die letzte Generation bedarf der Pflege. Wollte man das Duchschnittsalter an jenes der Insel B angleichen, so müsste der Nachwuchs verdoppelt werden. Jede Frau bekäme also nicht zwei, sondern vier Kinder. Das Ergebnis wäre eine Bevölkerungsexplosion: Für unsere Insel C würde es bedeuten, dass dort nach siebzig Jahren nicht 16, sondern 60 Menschen leben würden – und zwanzig Jahre später sogar schon 120 Menschen. Und ein Ende dieser exponentiellen Wachstumskurve wäre nicht abzusehen.
Insel C ist näher an der Realität, als so mancher glaubt: So bestätigte der französische Demograf Hervé Le Bras in der Zeit dieser Woche, dass die Frauen heute durchschnittlich vier Kinder bekommen müssten, wenn die Bevölkerung nicht weiter altern soll.
Stattdessen jedoch leben wir bekanntlich seit mehr als dreißig Jahren mit einem „Pillenknick“ – und wir sollten dankbar dafür sein. Genaue Berechnungen gibt es vom Statistischen Bundesamt der Schweiz. Danach würden in der Schweiz heute ohne den Pillenknick über zwanzig Prozent mehr Menschen leben. Umgerechnet auf Deutschland ergäbe sich, dass hier etwa hundert Millionen Menschen wohnen würden. Und dabei gehört die Bundesrepublik auch heute schon zu den dichtestbesiedelten Gebieten in Europa.
Der generative Wandel in den 60er-Jahren war kein Fluch, sondern ein Glück. Wir sollten die gegenwärtigen Probleme der Rentenversicherung ebenfalls als Chance begreifen – für einen Umbau, der die Rentenversicherung auf eine breitere Basis stellt und für mehr Gerechtigkeit sorgt. Es ist nicht einzusehen, dass Selbstständige, Beamte und besser verdienende Angestellte bisher gar nicht einzahlen oder nicht im Rahmen ihrer Möglichkeiten. Eine Möglichkeit wäre die weit gehende Steuerfinanzierung der Renten, wie es in anderen europäischen Ländern schon üblich ist. BERND KITTLAUS
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