Labour enthüllt Wahlprogramm

Premierminister Tony Blair eröffnet die Kampagne zu seiner Wiederwahl. Zum Schrecken der Parteilinken will er den öffentlichen Dienst privatisieren. Jetzt muss nur noch das Volk an die Urne. Denn viele wollen zu Hause bleiben

von RALF SOTSCHECK

Die Verwandlung Großbritanniens habe gerade erst begonnen, sagte der britische Premierminister Tony Blair gestern: „Jetzt bitten wir um die Chance, diese Aufgabe erledigen zu dürfen.“ Der Kampf um die Stimmen für die Wahlen am 7. Juni hat offiziell begonnen. Gestern stellte die Labour Party ihr 44-seitiges Wahlprogramm in Birmingham vor. Viel Neues enthält es nicht. Wie schon vor vier Jahren verspricht Blair mehr Ressourcen für Bildung, Gesundheit und Verbrechensbekämpfung. Um den Attacken der Tories den Wind aus den Segeln zu nehmen, legte sich Labour darauf fest, die Einkommensteuer nicht zu erhöhen.

„Das britische Volk hat großartige Dinge im 20. Jahrhundert erreicht, aber sein Potenzial nie voll ausgeschöpft“, sagte Blair in seiner Rede in Birmingham. „Es war, als ob uns ein gläsernes Dach zurückgehalten hat. Im 21. Jahrhundert haben wir die Gelegenheit, dieses Glasdach zu durchbrechen, denn unsere historische Stärken decken sich mit den Erfordernissen der Welt.“ Blair betonte, Labour habe langfristige Ziele, die bis 2010 erreicht werden sollen. Das riecht nach Margaret Thatcher, die sich nach ihrer ersten Amtsperiode „zehn weitere Jahre an der Macht“ erhoffte – und sie bekam.

Labours Wahlprogramm enthält 25 „nächste Schritte“, die in fünf Bereiche eingeteilt sind: Wohlstand für alle; ein moderner Wohlfahrtsstaat; starke und sichere Gemeinden; ein starkes Britannien in der Welt; öffentliche Dienste der Weltklasse. Vor allem der letzte Punkt lässt den linken Labour-Flügel erschauern, denn damit ist nichts anderes als Privatisierung gemeint.

Blair sagte, wichtigstes Ziel seiner zweiten Amtsperiode sei die „radikale Reform der öffentlichen Dienste“. Es werde keine ideologischen Barrieren für die Reformen geben. Er hütete sich freilich, vor den Wahlen Details zu enthüllen, jedoch ist ein Bericht des Blair nahestehenden „Institute for Public Policy Research“ durchgesickert.

Demnach sollen die lokalen Bildungsbehörden privatisiert werden, wenn sie ihre Aufgaben ungenügend erfüllen. Aber auch einzelne Schulen können die Leitung der Schule an Privatfirmen vergeben. Den Kommunalverwaltungen droht ebenfalls verstärkt Konkurrenz durch den Privatsektor, wenn ihre Leistung nicht stimmt. Am umstrittensten dürfte jedoch die geplante Gesundheitsreform sein. Gesundheitsämter und die Verwaltung der staatlichen Allgemeinärzte sollen ebenso teilprivatisiert werden wie die diagnostischen Zentren und langfristig ganze Bezirkskrankenhäuser.

Martin Taylor, Aufsichtsratsvorsitzender der Buchhandelskette WH Smith und Hauptautor des Berichts, meinte: „Der Gesundheitsminister hat gesagt, er wäre erstaunt, wenn der private Sektor eine größere Rolle in der Gesundheitsfürsorge spielen würde. Er wird erstaunt sein, und zwar sehr bald. Es ist eindeutig im öffentlichen Interesse, die Möglichkeiten der Privatwirtschaft zu nutzen, um das Gesundheitssystem zu reformieren und wieder aufzubauen, statt es zu ersetzen oder zu zerstören.“

Das Labour-Wahlprogramm wird auf das Wahlergebnis kaum Einfluss haben. Die Regierungspartei liegt bei Umfragen 15 bis 16 Prozentpunkte vor den Tories. Blair, der sich als „Post-Thatcherist und Post-Sozialist“ bezeichnete, sieht die größte Gefahr für seine Partei denn auch in der Wählerapathie. Viele werden in Anbetracht der klaren Mehrheitsverhältnisse zu Hause bleiben, prophezeien Meinungsforscher.

Um das Volk an die Wahlurnen zu bekommen, begab sich Blair am Dienstag zum ersten Mal unter die Leute, seit er den Wahltermin vorige Woche bekannt gegeben hat. In Yorkshire ging er in den Imbissladen „Happy Haddock“ (der „glückliche Schellfisch“) und kaufte eine Tüte Fish and Chips, neben Roastbeef das britische Grundnahrungsmittel. Als ein Passant ihm die Hand schütteln wollte, wischte sich er erst die fettigen Hände am Anzug ab. Nach knapp fünf Minuten war die für Blair sichtlich unangenehme Begegnung mit dem einfachen Volk vorbei.