Embleme der Emanzipation

Die Berliner Ausstellung „The Short Century“ von Okwui Enwezor präsentiert Afrika als Patchwork: Eine Geschichte der Entkolonialisierung – und der Kontinuität der Abhängigkeit in Politik und Kunst

von HARALD FRICKE

Am Anfang war kein Bild. Nur Texte. Genauer: eine Anthologie zur Unabhängigkeitsgeschichte des afrikanischen Kontinents. Okwui Enwezor wollte sie zusammenstellen, als 1994 in Südafrika die ersten freien Wahlen stattfanden. Es sollte eine Sammlung politischer Dokumente, philosophischer Essays und literarischer Erkundungen werden, die eine Frage eint: „Was ist Afrika und was bedeutet Afrika für uns?“

Keine ganz kleine Aufgabe, zugegeben. Auch nicht für einen Mann, der in Nigeria geboren wurde, in New York lebt, demnächst die documenta in Szene setzt und nebenher an einem Buch über „die kulturellen Folgen der Migration und Vertreibung in der Arbeit der frühen modernen afrikanischen KünstlerInnen im Westen“ arbeitet.

Aus der Anthologie ist nun eine Ausstellung samt 500 Seiten dickem Katalog geworden. Mit Malik Sidibés Fotos von Highlife-Partys in Mali, mit Manifesten zur Befreiung Tunesiens und einem Index, der bald 1.000 Namen umfasst. Louis Althusser ist dabei, ebenso Louis Armstrong, Gilles Deleuze auch und Fela Kuti sowieso.

Die ideelle african community, an die sich Enwezor mit „The Short Century“, der visuellen Umsetzung zur Kultur nach dem Kolonialismus, im Berliner Martin-Gropius-Bau wendet, ist noch größer als groß: Alle sind gemeint. Nicht nur wegen der veränderten Kartografie nach dem Zweiten Weltkrieg. In Afrika ereignet sich die Geschichte der sozialen, ökonomischen und politischen Konflikte, unter die der Westen mit der Unabhängigkeit einen sauberen Schlussstrich setzen wollte, permanent neu. Schlimmstenfalls als Katastrophe, so wie in Ruanda die Krise des Nationalstaats zum Völkermord geführt hat.

Aber kann man das zeigen? Kann man in einer Ausstellung ein Resümee ziehen aus all den Widersprüchen des letzten Jahrhunderts? Zunächst einmal setzt Enwezor auf extreme Materialfülle: Da sind Poster und kostbar bestickte Tücher, die am 6. März 1957 gefertigt wurden, als Ghana die Unabhängigkeit feierte, und die heute im Landesarchiv deponiert sind. Der Kleinstaat ist derweil mit einem Bruttoinlandsprodukt pro Kopf unter 699 US-Dollar in den „Club der Ärmsten“ aufgenommen worden – wie 34 andere afrikanische Länder auch. Da sind Tshibumbas Historiengemälde zur Ermordung Lumumbas, an der 1961 der belgische Geheimdienst beteiligt war – der Maler aus dem Kongo wiederum gilt seit Anfang der Achtzigerjahre als vermisst. Und da ist die Videoinstallation „Homeward Bound“ von Oladélé Ajiboyé Bamgboyé, der vor ein paar Jahren als Nigerianer mit britischem Pass aus Deutschland ausgewiesen wurde, weil man ihn für einen Asylbewerber hielt.

Der Rahmen für „The Short Century“ ist mit der Zeit zwischen dem panafrikanischen Unabhängigkeitskongress 1945 in Manchester und der Mandela-Wahl 1994 sehr klar abgesteckt. Dennoch erfährt man in der Ausstellung nur wenig über die geschichtliche Dimension hinter den Exponaten: Enwezor hält nicht viel von Museumspädagogik, auch wenn er und sein Kuratorenteam zweieinhalb Jahre recherchiert haben. Auf die Frage, ob eine solche Schau in Berlin als Nachhilfestunde dienen soll, kann er sich die Belehrung sparen – schließlich war es die Berliner Konferenz 1884, auf der unter dem Vorsitz Otto von Bismarcks der Kontinent zwischen den Kolonialmächten aufgeteilt wurde. Später erzählt Enwezor auf der Pressekonferenz ebenso beiläufig, dass bei den Nachforschungen zu Jomo Kenyatta, der von 1964 bis 1978 Kenias Präsident war, in London 5.000 Geheimdienstakten aufgetaucht sind, die erst vergangenes Jahr freigegeben wurden. In der Ausstellung sieht man stattdessen Kenyatta auf offiziellen Fotos in prächtigen Uniformen zwischen englischen Politikern souverän in die Kamera lächeln.

Nur einmal wird die Maskerade der politischen Diplomatie sichtbar. Es ist ein Foto mit der Herzogin von Kent, die kalt und zutiefst hilflos an ihrem Tanzpartner, dem neu gewählten ghanaischen Premier Kwame Nkrumah, vorbeistarrt. Ihre Lippen sind wie zugenäht, als müsse sie sich vor ihrem Gegenüber schützen. Es war nicht gerade der Beginn einer Freundschaft: Im folgenden Jahr wird Nkrumah auf der All-African Peoples Conference im Dezember 1958 verkünden: „Heute die Unabhängigkeit. Und morgen die Vereinigten Staaten von Afrika.“

Solche Momente, in denen der Kampf um die Entkolonialisierung Afrikas bei den Beiteiligten sichtbare Spuren hinterlässt, sind in der Auswahl selten. Denn solcher Art Aufklärung durch Offensichtlichkeit arbeitet Enwezor entgegen. Er will den Betrachter – und auch den Gegenstand der Betrachtung – vor all jenen Klischees bewahren, die weiterhin das Bild von Afrika bestimmen. So hat er keine der sonst so populären afrikanischen Skulpturen mitgebracht, weil damit wieder nur der Wunsch nach Exotismus am „Anderen“ befriedigt würde. Stattdessen sieht man abstrakte Arbeiten von Ernest Mancoba oder expressive Malerei bei Uche Okeke: Standards der späten 50er-Jahre, von afrikanischen Künstlern, die in Europa studiert haben. Keine parallele Moderne, wie Enwezor betont, aber ein „verschlungenes Phänomen“, das sich von einer Abstraktion als Weltsprache abhebt, wie sie zur ersten documenta 1955 ausgerufen wurde. Kleine Unterschiede gab es dennoch: Die ersten afrikanischen Künstler wurden in Kassel erst 1992 gezeigt. Damals waren es Ousmane Sows nackte Krieger und Mo Edogas irrwitzige Holzkonstrukte: Negerplastik für ein friedliches Miteinander der Kulturen.

Die Umwidmung führt beim Rundgang zu paradoxen Situationen. Der im Westen oft diagnostizierte kulturelle Sonderweg Afrikas löst sich in ein heteronomes Patchwork auf. George Adéagbo aus Benin etwa häuft für seine Installation „From Colonialization To Independence“ Bücher, Zeitungen und Popsymbole an. Das Sammelsurium aus Zeichen liest sich wie ein Produkt des Emanzipationsprozesses. Gleich nebenan braucht der Kameruner Pascale Martine Tayou nur eine Flagge, Fußballschuhe und einen Ball, um mit „Cameroon Embassy“ die Liebe zum Sport als nationalistische Propaganda seines Landes zu entlarven. Gavin Jantjes hat mit seinem „South African Colouring Book“ (1974/75) die Apartheid in politischen Collagen verarbeitet; der Magnum-Fotograf Ian Berry zeigt dagegen in seiner Reportage aus Johannesburger Schwulenclubs, dass Homosexualität bereits in den Sixties keine Rassentrennung mehr kannte. Fast kommt man sich vor wie in einer Studie von Michel Foucault: Indem Enwezor die Vorstellungen einer ethnischen, wenn nicht rassistischen Zuschreibung unterläuft, wird zugleich das Dilemma kultureller Identität erkennbar. Nicht die Aneignung von Formen oder Inhalten ist das Problem, sondern die Rolle, die man den Objekten einer kulturellen Repräsentation zuweist.

Das aber gilt für beide Seiten: Afrika wächst weder durch eine einheitliche Kunstauffassung zusammen, noch lässt sich der Kolonialismus mit visueller Kritik postwendend aussöhnen. Bei Enwezor bleiben die Wurzeln bewusst gekappt, und auch in Sachen Utopie ist er vorsichtig. Vielleicht ist deshalb die Sektion zur Urbanisierung ungeheuer schmal ausgefallen – als Kontrapunkt zu den schicken Glücksversprechen einer globalen Modernisierung, die auf der Expo als High-Tech-Architektur all over the world ausgestellt wurde.

Die zerklüfteten Realitäten finden sich auch im Video „Testament“ von John Akomfrah aus dem Jahr 1989 wieder. Der 1957 in Ghana geborene Filmemacher erzählt die Geschichte einer Frau, die während der Regierung von Nkrumah zur politischen Aktivistin ausgebildet wurde und nach dem Ende des Regimes das Land 1966 verlassen musste. Drei Jahrzehnte später kehrt sie zurück, um eine Dokumentation über Werner Herzogs „Cobra Verde“ zu filmen. Mit jeder Erinnerung an früher wird ihr Befremden doppelt: Was treibt ein deutscher Regisseur in einem Land, das sie selbst nicht einmal mehr kennt? Akomfrahs Blick reicht dabei weit über Afrika hinaus, bis in die Diaspora. Jetzt ist er in Berlin angekommen.

Bis 22. 7., Martin-Gropius-Bau, Berlin. Der Katalog ist im Prestel Verlag erschienen und kostet 78 DM.