der politiker und das einfache volk:
von RALF SOTSCHECK
Wahlkampf kann durchaus unterhaltsam sein. Britanniens stellvertretender Premierminister John Prescott hat vor ein paar Tagen einen Wähler getroffen. Mit seiner linken Faust. Es war ein Hieb, der einem Profiboxer Ehre gemacht hätte: Presott täuschte mit rechts an, doch dann landete die Linke des ehemaligen Matrosen der Handelsmarine am Kinn des Wählers. Der hatte sich Prescotts Unmut zugezogen, weil er ihm mit einem Ei den Anzug ruiniert hatte. Kriegspremier Winston Churchill, dem das Gleiche passiert war, hatte damals gelassener reagiert: Dem Volk müsse es ja recht gut gehen, wenn es nahrhafte Eier durch die Gegend werfe, meinte er.
Aber vielleicht war Prescotts Schlagfertigkeit eine geplante Showeinlage, um das dröge Labour-Wahlprogramm von den Titelseiten der Zeitungen zu verdrängen. Prescott musste nicht hinter Gitter, weil sein Chef Tony Blair für ihn bürgte. Der Premierminister soll Tränen gelacht haben, als er die Fernsehbilder von Prescotts Begegnung mit dem einfachen Volk sah. Der Attentäter Craig Evans, ein „wohlerzogener und zurückhaltender Hüne“, wie ihn seine Freunde beschreiben, hatte bei der Rauferei, die nach dem Fausthieb ausbrach, Prescotts Nase zwischen Zeige- und Mittelfinger eingeklemmt und schob den Vizepremier über eine niedrige Mauer.
Blair kann nachfühlen, was Prescott durchgemacht hat, denn auch er traf auf freier Wildbahn unerwartet auf eine Wählerin. Sie hatte ihm vor einem Krankenhaus in Birmingham aufgelauert, wo Blair einen Fototermin hatte, und redete fünf Minuten lang aufgeregt auf ihn ein. Die Situation war ein Albtraum für Blairs Berater, die bereits ins Krankenhaus gegangen waren und sich die Haare rauften, weil sie ihrem Chef wegen der Menschenmenge nicht mehr zu Hilfe eilen konnten.
Sharron Storer, so hieß die Wählerin, war erbost, weil ihr an Krebs erkrankter Partner wegen Bettenmangel im Krankenhaus seit Wochen auf der Notaufnahme geparkt war. „Tut mir leid“, murmelte Blair und bat Storer inständig, doch ins Gebäude außer Reichweite der Kameras zu treten, aber sie ließ sich nicht beirren: „Es tut dir überhaupt nicht leid“, schnauzte sie ihn an, „denn wenn es dir Leid täte, würdest du was dagegen unternehmen.“ Es muss Blair wie eine Ewigkeit vorgekommen sein, bis Storer ihn endlich zur Seite schubste, nachdem sie ihn wie einen kleinen Jungen ausgeschimpft hatte und nach Hause ging. Blair tat das Gleiche, er hat sich seitdem in der Downing Street eingeschlossen.
Komischerweise traf Tory-Chef William Hague fast zur selben Zeit ebenfalls eine Wählerin, deren Partner an Krebs erkrankt ist. Für Hague, der ja sonst nicht viel zu lachen hat, ging die Sache besser aus: Die Frau versprach, die Tories zu wählen. Hague berief sofort eine Pressekonferenz ein. Eine Frau, deren Mann Krebs habe, werde die Konservativen wählen, verkündete er den verblüfften Reportern, die in spontanen Applaus ausbrachen. Tory-Wählerinnen sind fast so selten wie Politiker-Begegnungen mit dem einfachen Volk.
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