Gendarm und Hooligan

Der Angeklagte Warnecke arbeitet sorgfältig an seinem gewaltfreien Image. Das Opfer Nivel kann nur noch zuschauen

aus Saint-Omer DOROTHEA HAHN

„Ich bereue diese ganzen schlimmen Dinge“, sagt Markus Warnecke und reicht das Mikrofon an die Übersetzerin weiter. „Er sagt nichts Konkretes“, kommt sie auf Französisch ins Stottern, „es geht allgemein um schlimme Dinge.“ Der Vorsitzende Richter Michel Gasteau nickt stumm. Dieses Mal hakt er nicht nach. Er stapelt seine Dokumente übereinander und schickt die neun Geschworenen und drei Berufsrichter in die Mittagspause: „Die Verhandlungen gehen um 14 Uhr weiter“, verkündet er. Als Letzter humpelt Daniel Nivel zum Ausgang des Gerichtssaals. Mit den Händen sucht er Halt an Stuhllehnen und Tischkanten.

Der Gendarm und der Hooligan sitzen sich seit acht Tagen in der nordfranzösischen Kleinstadt Saint-Omer gegenüber. Nivel auf der Bank für Nebenkläger, Warnecke auf der für Angeklagte. Seit sie sich vor drei Jahren zum ersten Mal begegnet sind, kann Daniel Nivel nicht mehr sprechen. Markus Warnecke, der im Gefängnis Französisch gelernt hat, beschränkt sich auf knappe Sätze, meist auf Deutsch, und lässt sie übersetzen. Nivel stiert das glatt rasierte Jungmännergesicht mit den weichen Zügen minutenlang an. Warnecke vermeidet den Blick in das ausdruckslos gewordene, hagere Gesicht gegenüber.

Zur Wahrheitsfindung in diesem Indizienprozess haben der Gendarm und der Hooligan wenig beigetragen. Nivel kann sich nicht mehr erinnern, was an jenem 21. Juni 1998 gegen 16.45 Uhr auf dem Höhepunkt der Fußballweltmeisterschaft in der nordfranzösischen Kleinstadt Lens geschah. Warnecke will es nicht. Erst bestritt er seine Anwesenheit am Tatort. Dann leugnete er jede Beteiligung an der Lynchszene. Dann tastete er sich in vielen Teilgeständnissen zu immer neuen Versionen vor. Inzwischen gibt er zu, ein Holzschild vor dem Oberkörper getragen zu haben. Zu seinem „eigenen Schutz“. Die Schläge und Fußtritte auf den bereits bewusstlos am Boden liegenden Gendarmen bestreitet er.

An jenem Sonntag, als der Gendarm und der Hooligan einander begegneten, stand das Fußballspiel Deutschland – Jugoslawien auf dem Programm von Lens, der kleinsten Ausrichterstadt der Weltmeisterschaft. Warnecke war in einem Bus voller Hooligans aus Hannover angereist. Auf der tausend Kilometer langen Strecke hatten die 46 jungen Männer rituell „Ausländer raus!“ gegrölt und viel Bier getrunken. Nach Lens lockte sie die Aussicht auf Schlägereien „mit den Jugos“ und der französischen Polizei. Eintrittskarten für das Fußballspiel hatten sie nicht. Nivel tat an diesem Tag Dienst in einer Seitenstraße.

Kurz nach seiner Ankunft im Ausland kämpfte Warnecke seine erste Schlacht. In der Nähe des Bahnhofs von Lens stand er am Morgen jenes Tages gemeinsam mit fünfhundert mit Zahnschutz, bleibeschwerten Handschuhen und Knüppeln ausgerüsteten deutschen Hooligans fünfzig französischen Polizisten gegenüber. Stunden später, als die Einwohner der Kleinstadt längst in ihre Häuser geflüchtet waren, schlugen deutsche Hooligans einen brasilianischen Journalisten krankenhausreif. Um 16.45 Uhr war Gendarm Nivel dran. Ihm brachen sie Schädel und Wirbelsäule.

„Ich war nie ein Hooligan“

Knapp drei Jahre danach sind die beiden Männer kaum wiederzuerkennen. Der 47-jährige Gendarm Nivel musste nach dem Erwachen aus dem sechswöchigen Koma jede Bewegung, jede Geste neu lernen. Seine Leidensgeschichte ging um die Welt. Seit Prozessbeginn interessieren sich die Journalisten nun für die Wandlung des 30-jährigen Hooligans. Nachdem Warnecke im Gefängnis seine kolossalen Körpermaße reduziert hat, tritt er vor dem Schwurgericht nun mit modischer Kurzhaarfrisur, Drahtgestellbrille und einem Jackett über den Tätowierungen auf. „Ich war nie ein Hooligan“, sagt er mit vor dem Bauch gefalteten Händen, „ich kannte nur ein paar aus dem Fußballstadion.“

Vor dem 21. Juni 1998 betrieb Warnecke ein Tätowier- und Piercingstudio in Hannover. Er war Mitglied der Hannoveraner Motorradgang „Bones“, die einen Totenkopf im Logo trägt, und arbeitete als Disko-Türsteher für den privaten Ordnerdienst „Bones Security“. Er war fünf Mal vorbestraft: meist wegen Schlägereien – auch mit der Polizei –, einmal wegen Betrugs. Er hat mehrere eingestellte Ermittlungsverfahren hinter sich, darunter eines von Interpol. Unter seinen Mitarbeitern und Kunden im Tätowierstudio, seinen Freunden waren Hooligans.

Dem französischen Schwurgericht bleibt diese Welt verschlossen. Kein Hooligan aus Warneckes Kreis ist der Vorladung zur Zeugenaussage nach Saint-Omer gefolgt. Keiner aus Hannover und kein Augenzeuge der Tat. Auch jene nicht, die 1999 von einem Gericht in Essen bereits wegen des Angriffs auf den Gendarmen Nivel zu mehrjährigen Gefängnisstrafen verurteilt wurden. Absagen kamen auch aus Großbritannien, wo die Unterstützer der jugoslawischen Fußballmannschaft leben, die am 21. Juni 1998 wenige Meter von der Lynchszene in Lens entfernt waren.

In Frankreich müssen Zeugen einer Vorladung vor Gericht folgen. Sie müssen sich den Fragen der Justiz stellen und sich die Suche nach Widersprüchen gefallen lassen. Auch wenn sie sich dabei selbst belasten. So will es das französische Gesetz. Dass das dem Schwurgericht in Saint-Omer nicht möglich ist, liegt daran, dass die Täter Ausländer sind. Deutsche, von denen alle außer Warnecke nach der blutigen Tat in ihr Land zurückreisen konnten. Jetzt wollen sie nicht freiwillig nach Frankreich fahren. Und die deutsche Justiz liefert sie nicht ins Ausland aus. „Jenseits der Landesgrenzen bin ich machtlos“, sagt der Vorsitzende Richter Gasteau resigniert. Als Ersatz hat das Schwurgericht von Saint-Omer Experten geladen: einen Streetworker aus Düsseldorf und einen Psychologen aus Belgien. Beide berichten über einen straff organisierten und gewaltbereiten Hooliganismus, wie er in Frankreich nicht existiert.

Statt der Freunde aus der Hannoveraner Szene von Warnecke ist seine komplette Familie angereist. Auch zwei seiner Jugendfreunde, die heute in Büros in Hannover arbeiten. Sie beschreiben einen „ruhigen, besonnenen, toleranten Mann“ und einen „friedliebenden, zuverlässigen Freund“, mit dem sie zusammen Musik hörten und tanzen gingen. Adnan Ertürk erzählt von der Hochzeit seiner Schwester, an der der Angeklagte teilgenommen habe – „eine türkische Hochzeit“ – und die Zeugin Kerstin Seppelt schwelgt von der engen Freundschaft zwischen Warnecke und einem Marokkaner.

Die Beweislage ist dünn

„Für Politik interessiere ich mich eigentlich nicht“, hat Warnecke dem französischen Gericht gesagt. Jetzt will der Vorsitzende Richter von Ertürk und Seppelt wissen, was es mit der Partei auf sich hat, die sie gegründet haben. Der stadtbekannter Hannoveraner Hooligan „Bulle“ hatte Warnecke darüber in einem Brief ins Gefängnis informiert. „Ich bin stolz, Ehrenmitglied der Partei“ zu sein, schrieb „Bulle“. Sein Brief ist mit dem „alten deutschen Gruß“ unterzeichnet. So endet ein großer Teil von Warneckes Gefängnispost. „Da geht es nur um die Förderung der Technomusik“, versichert Kerstin Seppelt. Der Vorsitzende Richter Gasteau lässt sich den Namen der Organisation buchstabieren, die eine Partei werden soll: „Bund progressiver Housemusik“, sagt die Entlastungszeugin.

Das Kapitel Politik ist damit erledigt. Das französische Schwurgericht will sich nicht einmischen. Es nimmt zur Kenntnis, dass Warnecke seinen Pitbull Odin nannte, weil er sich „schon seit der Schulzeit für germanische Mythologie“ interessiert. Dass man „in der alten Heimat“ bei abendlichen Ritualen „das Glas auf ihn“, auf den wegen Totschlagversuchs Angeklagten, erhebt. Und dass der inhaftierte Warnecke vorgeschlagen hat, Freunde von der „Bones Security“ loszuschicken, um die Journalisten, die das Haus seiner Eltern belagerten, zu vertreiben. Einmal fragt der Vorsitzende Richter mit süffisantem Lächeln, ob es in Deutschland üblich sei, dass vorbestrafte Schläger Dienst in privaten Ordnertrupps tun. „Ja“, antwortet der Angeklagte, „das entscheiden die Mitglieder jeder Organisation selbst.“ Und vor einem französischen Fernsehteam erklärt der Anwalt des Angeklagten, Bertrand Wambeke, Tätowierungen und Motorradclubs seien „eine weit verbreitete alternative Lebensweise in Deutschland. Ganz besonders im Norden.“

Die Beweislage für das Verbrechen vom 21. Juni 1998 ist dünn. In einer Vitrine im Gerichtssaal liegen Dienstwaffen von Gendarmen, ein blutiges Taschentuch und mehrer Zeitungsausschnitte. Die beiden Gendarmen, die mit Daniel Nivel seinen letzten Dienst in der Rue Romuald Pruvost versahen, identifizieren Warnecke vor Gericht „eindeutig“ als einen derjenigen, die auf ihren bereits bewusstlos am Boden liegenden Chef einschlugen und eintraten. Ein neunjähriger Junge, der sich unter einen Busch flüchtete, als die Hooligans in der Rue Romuald Pruvost auftauchten, erkennt den Angeklagten vor Gericht „ganz sicher“ wieder.

Aber auf den Fotos von der Lynchszene ist Warnecke nicht zu sehen. Ein österreichischer Hooligan nahm die Bilder damals auf und verkaufte sie an die Bild-Zeitung. Vor Gericht sagt der Österreicher aus, Warnecke sei „nicht beteiligt“ gewesen. Die wenigen anderen Augenzeugen können sich nur an ihre „riesige Angst“, nicht aber an einzelne Gesichter der Angreifer erinnern.

Die neun Geschworenen und drei Berufsrichter müssen ihr Urteil morgen fällen. Wenn sie Markus Warnecke für schuldig halten, können sie ihn zu einer Gefängnisstrafe von bis zu 15 Jahren verurteilen.

Der Gendarm, der dem Angeklagten seit neun Verhandlungstagen reglos gegenüber sitzt, hat nur einmal ganz undeutlich und langsam die Wörter „Ça va“ ausgesprochen. Den Rest sagt seine Frau Lorette, die seit beinahe drei Jahren für ihren schwer behinderten Mann spricht: „Dieser Prozess ist sehr wichtig für ihn.“