: Naive Unkenntniss
Die Zahl der Drogentoten unter der russischstämmigen Bevölkerung steigt extrem. Ein Türke forscht mit Migranten und Sozialarbeitern nach Ursachen
von VIOLA THEUNISSEN
Allein im Jahr 2000 hat sich die Zahl der Drogentoten unter der russischsprachigen Bevölkerung in Deutschland vervierfacht. 1999 starben bundesweit 36 russischsprachige Menschen, letztes Jahr waren es schon 162. In Berlin konsumieren schätzungsweise mehr als 1.500 russischsprachige Menschen illegale Drogen. Doch nur etwa ein Zehntel werden gegenwärtig vom Drogenhilfesystem erreicht, sagt Edgar Wiehler von der Drogenberatung Misfit, dem sich viele zuwenden, da er Russisch versteht und spricht.
Das Problem, dass süchtige Migranten das Berliner Hilfesystem nicht in Anspruch nehmen, haben auch frühere Migrantengenerationen gesehen. Von der Brisanz der Sucht unter Immigranten aus dem türkischen und arabischen Raum aufgeschreckt, organisierten sich seit 1982 türkische Migranten in einem Selbsthilfeprojekt. Zwei Anläufe schlugen fehl. Doch inzwischen arbeitet der „Verein zur Förderung der türkischen Kultur, Theater und Sozialwerkstatt ODAK e.V.“ so kompetent, dass er seine Erfahrung auch anderen Migrantengruppen angedeihen lässt.
Die Arbeit fußt auf der Überzeugung, dass es für alle Migranten typische Probleme gibt, die sie von den Deutschen unterscheiden. Der Türke Orhan Akbiyik versammelt seit September die sonst so zerstrittenen Vertreter der Aussiedler und jüdischen Kontingentflüchtlinge an einem runden Tisch. Zusammen mit russischen Vereinen sowie Deutschen aus Berliner Einrichtungen und Strafvollzug bis hin zu Jugendbeauftragten der Polizeidirektion haben sie sich monatlich getroffen. Parallel dazu vernetzt Orhan Akbiyik auch die Vietnamesen, die geteilt in „Wessis“ und „Ossis“ beziehungsweise Süd- und Nordvietnamesen nicht weniger Animositäten gegeneinander hegen.
Gemeinsam ist all diesen Migrantengruppen die große Naivität, mit der harte Drogen verwendet werden, und die Rasanz, mit der sie in die Abhängigkeit geraten. Die Unkenntnis von Sucht als Krankheit, die neben körperlichem Entzug auch lebenslängliche psychologische Behandlung erforderlich macht, führt faktisch zum Rückfall als Normalfall.
Der Eindruck, dass die „Russen“ in einem ersten Fachgespräch zu viel wollten und das Drogenproblem immer mehr ausweiteten, bis es schließlich unter dem Begriff „psychosoziale Versorgung“ zusammengefasst werden musste, entspricht der Phase, in der die Kommunikation der Russischsprachigen untereinander sich befindet: ganz am Anfang. Die Gründe für die Probleme sind vielfältig. So verweist die auffällige und spezifische „Therapieunfähigkeit“ der meisten Russischsprachigen auch auf Traditionen im Pädagogik- und Bildungssystem, aus dem sie kommen: Das hierarchische Drill-Bildungssystem verhindert die Entstehung einer inneren Reife, mit der jemand sich zu etwas selbst entschließt und es durchhält. Entsprechend kommen die Abhängigen nicht selbst in die Beratung, sondern werden von ihren Müttern oder Frauen angeschleppt. Auch haben sie traditionell geringes Vertrauen gegenüber staatlichen Institutionen. Spezifisch für die „Russen“ ist zudem die große Intoleranz gegenüber Homosexuellen und anderen Migrantengruppen sowie eine große Bereitschaft zur Gewalt beim Austragen von Konflikten. Doch auch die Toleranz der deutschen Sozialarbeiter ist oft erschöpft. Greifen sie etwa korrigierend in die Sexual- und Fäkalsprache „mat“ ein, verlieren sie das Vertrauen der Jugendlichen. Deshalb ist eine konfrontative Sozialarbeit wenig hilfreich. Erreicht werden muss ein großes Maß an Selbsthilfeengagement der Migranten. In der interkulturellen Kommunikation ist die richtige Durchmischung von Einheimischen, Kulturmediatoren und Migranten wichtig. Deutsche Fachkräfte müssen für die Traditionen, Geschichte und Mentalität der Ethnien sensibilisiert und geschult werden Nächstes Fachgespräch am 31. Mai: „Drogengefährdete und konsumierende junge Migranten aus Vietnam“. Anmeldung: Tel: 8031831; Fax: 8035404
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