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Im Westen viel Neues

Erziehungsroman und Porträt Amerikas in den Vierzigerjahren: Paula Fox’ „Kalifornische Jahre“

von GERRIT BARTELS

Große Worte sind ihre Sache nicht. „Weißt du“, sagt die 17-jährige Annie zu ihrem Freund und späteren Ehemann Walter, „ich gehe wirklich nach Kalifornien.“ Was auch dieser nur knapp kommentiert: „Ich weiß“, sagt er, „du bist nun mal so.“ Wie sie aber nun wirklich ist, was sie wirklich antreibt, ist der jungen Heldin in Paula Fox’ tollem Roman „Kalifornische Jahre“ keineswegs klar.

Annie lebt allein im New York des Jahres 1939: Ihre Mutter hat sie nie kennen gelernt, ihr Vater, ein Maler, hat die Stadt gerade mit einer neuen Frau verlassen. Annie geht auf eine Kunsthochschule, aber nur, weil ihr Vater einst gesagt hat: „Du musst irgendwas wollen.“ Sie geht zu Versammlungen, auf denen amerikanische Kommunisten den Pakt verteidigen, den Stalin mit Hitler geschlossen hat – aber nur, weil Walter sie dorthin mitnimmt. Und so geht sie nach Kalifornien, einfach so, ohne besonderen Anlass – vielleicht, weil alle Wege Amerikas nach Westen führen, vielleicht, weil Hollywood sie anzieht. Vielleicht aber auch, weil sie wirklich „hatte ausbrechen wollen aus jenem unsicheren und anarchischen Leben, in dem nur der Zufall regierte“.

Eine junge Frau auf der Suche nach sich selbst, eine junge Frau, die versucht, „das Unverständnis ihrer selbst, das ihr Wesen ausmacht, zu durchdringen“ – Paula Fox hat mit „Kalifornische Jahre“ einen groß angelegten Erziehungsroman geschrieben, der sich vor dem Hintergrund des Amerikas der frühen 40er-Jahre und dem Zweiten Weltkrieg abspielt. Entstanden ist der Roman vor über dreißig Jahren: Er erschien in den Staaten 1972 unter dem Titel „The Western Coast“, und er ist jetzt nach Paula Fox’ gefeiertem Deutschland-Debüt „Was vom Tage bleibt“ („Desperate Children“, 1970) der zweite Roman der heute 77-jährigen amerikanischen Autorin, der vom Münchner C. H. Beck Verlag veröffentlicht wird. Zu wünschen wäre, dass der (verdiente) Wirbel, der um „Was vom Tage bleibt“ hierzulande veranstaltet wurde, weiterhin trägt, steht doch „Kalifornische Jahre“ dem novellenartigen „Erstling“ in nichts nach. (Von Paula Fox sind in den USA in den 60er- und 70er-Jahren fünf weitere Romane erschienen.)

„Was vom Tage bleibt“ handelte vom amerikanischen Mittelstand und seiner Verunsicherung in den Sechzigerjahren zwischen Bürgerlichkeit und Boheme, was Fox anhand der brüchigen Ehe einer mittelalten Frau subtil und luzide zugleich schilderte. In „Kalifornische Jahre“ zeichnet sie ein sehr nachhaltiges Porträt des Amerikas der 40er-Jahre zwischen Depression und Aufbruch, in dessen Mittelpunkt eine Art zweite „lost generation“ steht, eine Generation, die den Ersten Weltkrieg nur vom Hörensagen kennt und im Post-Jazz-Age aufgewachsen ist.

Da sind zweifelnde Kommunisten wie Max, der zwischen Familie, Partei und Annie hin- und hergerissen ist. Oder Theda, die als Abweichlerin gilt, weil sie um ihren in Spanien gefallenen Ehemann trauert (der habe nur aus Überdruss gegen Franco gekämpft, nicht aus Überzeugung, beteuert sie immer wieder). Oder Jake und Sigrid, gestrandete Kleinbürger, die sich mit McJobs durchs Leben schlagen; dann Drehbuchautoren, Regisseure, Kleinstdarsteller, gescheitert oder auch nicht; Afroamerikaner wie Cletus oder Melvin, auf der Suche nach dem Glück wie die anderen , aber dem alltäglichen Rassismus ausgesetzt.

Und mittendrin Annie, rastlos, orientierungslos, oft teilnahmslos. Sie übt vor allem auf Männer unwiderstehliche Anziehungskraft aus, ohne dass ihr das was bedeuten würde; sie schlägt sich mit mies bezahlten Jobs durch, wohnt in schäbigen Absteigen; sie sitzt in kommunistischen Zirkeln, ohne den Wunsch zu verspüren mitzureden; sie liest Freud, Romane von Hardy, Dostojewski und Anderson, und Scott Fitzgeralds „Zärtlich ist die Nacht“ gar zweimal.

Ob sie sich in der Figur der Nicole Diver wiedergefunden hat? Man erfährt es nicht. „Sie wollen über nichts nachdenken, Sie wissen schon eine Menge, aber Sie schenken dem, was sie wissen, keine Aufmerksamkeit“, sagt einmal jemand zu ihr. Wie so oft weicht Annie aus: Es ist eine der Vorzüge von Paula Fox, Dialoge schreiben zu können, in denen viel Ungesagtes mitschwingt, die aneinander vorbeigehen und trotzdem wirkungsvoll sind. Fox erzählt knapp und präzise, malt mit ein paar Sätzen dichte Bilder, schildert lakonisch und ohne falsche moralische Töne, von Susanne Röckel im Übrigen sehr leichthändig übersetzt, wie Annie immer wieder neuen Leuten begegnet, den Tod kennen lernt, sich scheiden lässt, neue Beziehungen eingeht.

Paula Fox gibt sich mit „Kalifornische Jahre“ als Skeptikerin: Von Ideologien hält sie nichts, Hollywood ist für sie eine „Parodie voll wütender Enttäuschung“; ihr geht es vor allem um die Verwerfungen im Innern, um die seelischen Erschütterungen und Abwege, die das Leben ausmachen. Die besten Geschichten lassen sich sowieso nur auf der Basis des Individuellen erzählen – das lehrt die Geschichte von Annie, davon wüsste auch Paula Fox sicher aus ihrem eigenen Leben heraus einen tollen Roman zu erzählen. Fox wuchs selbst nicht in der Obhut ihrer Eltern auf, sondern bei Pastoren, Verwandten und in Waisenhäusern; auch sie verheiratete sich mit 17 Jahren, und sie gebar mit 20 eine Tochter, die sie zur Adoption freigab und erst vor zehn Jahren kennen lernte: Linda Risi, die selbst wiederum die Mutter von Courtney Love ist. „I just took everything as it came“, hat Fox die vielen Irrungen und Abwege in ihrem Leben einmal kommentiert; erst in ihren späten Dreißigern kam sie in New York wirklich zur Ruhe.

Da passt es, dass Annie genauso unvermittelt, wie sie nach Kalifornien gegangen ist, Richtung Europa aufbricht. Thedas Einwand interessiert sie nicht: „Warum willst du auf einen Friedhof gehen? Wie kannst du den Boden betreten, wo diese Dinge geschehen sind! Weil dir langweilig ist? Weil dein Kopf leer ist?“

Was am Ende des Romans bleibt, ist eine Frau, deren Lehrjahre der Gefühle abgeschlossen zu sein scheinen. Die glaubt, zu den Leuten zu gehören, „die immer ihre eigene Spur zurückverfolgen“, und trotzdem immer wieder auf Neustart drückt.

Paula Fox: „Kalifornische Jahre“. Aus dem Amerikanischen von Susanne Röckel. Verlag C. H. Beck, München 2001, 488 S., 44 DM

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