: Land unter im russischen Osten
Treibende Eisblöcke haben in Sibirien die Lena über die Ufer treten lassen und den Wasserstand auf Rekordhöhe getrieben. In der vergangenen Woche versank die Stadt Lensk in den Wassermassen. Jetzt rollt die Flutwelle auf die Großstadt Jakutsk zu
von KLAUS-HELGE DONATH
Lena ist für ihre Launen bekannt und gefürchtet. Wer in ihrer Nachbarschaft wohnt, schläft nur im Winter ruhig, wenn meterdickes Eis den Strom versiegelt. Trotz erhöhter Wachsamkeit werden jedes Jahr im Spätfrühling Anrainer von den Fluten des Stromes kalt erwischt. 15 Menschen starben allein 1998, als der 3.500 Kilometer lange Fluss über die Ufer trat.
In diesem Jahr erreichte der Wasserstand indes ein Rekordhoch. Seit über hundert Jahren hatte das Hydrographische Institut Russlands keine vergleichbaren Überschwemmungen registriert. 21 Meter liegt der Wasserstand über dem Normalpegel und hat damit die kritische Marke um sieben Meter überstiegen.
Letzte Woche versank unter der Wucht der Wassermassen die Stadt Lensk mit 26.000 Einwohnern am Oberlauf der Lena. 400 der traditionellen sibirischen Holzhäuser riss der Strom mit sich und brachte selbst ein sechzehnstöckiges Hochhaus zum Einsturz. Eine Frau kam in Lensk ums Leben, als das Fluchtboot kenterte. Fast alle Einwohner haben die überfluteten Ruinen der Stadt verlassen. Die zu 80 Prozent zerstörte Stadt, hieß es im Notstandsministerium, werde auf einer Anhöhe an anderer Stelle wieder aufgebaut.
Treibende Eisblöcke, die sich zuweilen bis zu 80 Kilometer langen Staus verrammen, haben die Überschwemmungen verursacht. Die russische Luftwaffe bombardierte die Eisflächen mit Kampfflugzeugen. In Lensk warf sie allein 156 Bomben mit einer Sprengkraft von je 500 Kilogramm ab, ohne dass sich der Wasserstand um mehr als wenige Zentimeter gesenkt hätte. Meist schlagen die Bomben durchs Eis und detonieren erst am Grund in zwanzig Meter Tiefe. Statt das Eis zu brechen, vernichten sie den Fischbestand.
Mittlerweile rauscht die Flutwelle auf die Hauptstadt der Republik Jakutien zu, die 1.200 Kilometer weiter im Norden liegt. In Jakutsk versuchen Notstandsministerium und Bürger seit Tagen, die Dämme zu verstärken. Das Wasser hat jedoch auch in der Unterstadt die kritischen acht Meter erreicht, denen aufgeschichtete Dämme nicht mehr standhalten. Aus den flacher gelegenen Stadtteilen wurden am Wochenende 3.500 der 250.000 Einwohner evakuiert. Die meisten Obdachlosen finden Unterschlupf bei Verwandten und Bekannten in höher gelegenen Stadtteilen. In Lensk und in kleineren Siedlungen hatten sich indes viele Bürger zunächst geweigert, ihre Häuser zu verlassen – aus Angst vor Plünderungen. In Kirensk forderte das ein Todesopfer.
Wenn es nicht gelingt, den Eisstau zu deblockieren, meinte der Premierminister der Republik Sacha Jakutien, Wassili Wlasow, erreiche die Flutwelle Jakutsk im Laufe des Dienstag. Zwei Fünftel der Stadt würden unweigerlich versinken. Eine bedrohliche Prognose, die Spekulanten sofort versilberten. Trink- und Mineralwasservorräte verschwanden schlagartig aus den Geschäften. Auf dem Markt kosten fünf Liter Trinkwasser 42 statt der behördlich festgesetzten 32 Rubel.
Meteorologen und Hydrologen hatten schon im April auf die Gefahren der Eisschmelze hingewiesen. Sicherheitsmaßnahmen wurden erst eingeleitet, als das Wasser buchstäblich über die Schwelle schwappte. Die vom Kreml eingeschüchterten Medien wagen es nicht, nach den Verantwortlichen zu fragen. Auf keinen Fall trifft Kremlchef Wladimir Putin Schuld. Stattdessen nutzte er die Gelegenheit, auf die Professionalität der Rettungsmannschaften hinzuweisen.
In der Republik Sacha schlummern die größten Diamantenvorkommen Russlands. Den Rohstoffreichtum versuchte die Republik schon Anfang der 90er einzusetzen, um sich von der Bevormundung durch Moskau zu lösen. Der Konflikt hat sich beruhigt. Jedes Jahr verhandeln indes Moskau und Jakutsk von neuem über die Quote, wie viel der Rohstoffeinnahmen in der Republik verbleiben. Moskaus Premier versprach Soforthilfe in Höhe von 100 Millionen Rubel (7,5 Millionen Mark). Der Schaden wird schon auf zwei Milliarden Rubel (160 Mio. Mark) beziffert.
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